: Für eine Kultur der Niederlage
Der Krieg gegen Afghanistan könnte dazu führen, dass der Westen in Zukunft bereit sein wird, weitere, noch verheerendere Feldzüge zu unternehmen
von MICHA BRUMLIK
Knapp vier Wochen nach Beginn des Waffengangs der USA in Afghanistan bestätigt sich, was von Anfang an absehbar war: Die Verstümmelten und Toten sind wie in allen modernen Luftkriegen Frauen und Kinder; Afghanistan, wer immer dort herrscht, ist nicht im Spaziergang zu besiegen; das innenpolitische Klima der westlichen Staaten verschiebt sich nach rechts, und die bestehende Anti-Terror-Allianz stützt vor allem Regime, die ihrerseits die Menschenrechte verletzen und damit Auslöser künftiger Unruhen sind.
Dies geschieht vor dem Hintergrund einer dramatisch veränderten völkerrechtlichen Lage: Seitdem der UN-Sicherheitsrat vor einigen Wochen die Reaktion der USA auf die Terroranschläge von New York und Washington einstimmig und nachträglich als legitimen Schritt der Selbstverteidigung anerkannt hat, scheint die Bombardierung der afghanischen Zivilbevölkerung völkerrechtlich legal zu sein. Zweifel bestehen allenfalls an der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel und an der Legitimität der Inkaufnahme von „Kollateralschäden“. Nebenbei: Es sind nicht die USA und ihre Verbündeten, also die deutsche Regierung, sondern die Menschen in Afghanistan, die diese Schäden, sprich Tod und Verstümmelung, in Kauf nehmen müssen.
Nachdem also eine völkerrechtliche Kritik am Bombenterror gegen Afghanistan nicht mehr möglich ist, lässt sich immerhin noch politisch und moralisch nach dem Sinn dieses Waffengangs fragen – es handelt sich ja weder um einen Krieg noch um eine Polizeiaktion. Um einen völkerrechtlich legalen Krieg handelt es sich nicht, weil es keine kriegsvölkerrechtlich anerkannten Gegner gibt. Und um eine Polizeiaktion nicht, weil gegen niemanden ein Haftbefehl ausgestellt worden ist.
Dabei macht sich nicht nur in den USA, sondern auch in der Allianz Unbehagen breit. Die USA wissen, dass die Auseinandersetzung nur mit Bodentruppen gewonnen werden kann, schrecken aber nach den eigenen Erfahrungen in Vietnam und dem sowjetischen Debakel in Afghanistan vor einer Stationierung großer Truppenkontingente auf afghanischem Boden zurück.
Stattdessen setzen sie ihre Luftwaffe als Artillerie für die Nordallianz ein, wie sie das schon im Kosovo für die UÇK gemacht haben. Dabei ist den USA und ihren Alliierten bewusst, dass die UÇK bei aller sonstigen Unzuverlässigkeit in Fragen der Menschenrechte im Vergleich zur Nordallianz wenigstens von einem einheitlichen Nationalismus zusammengehalten wurde und damit halbwegs berechenbar war. Schließlich sind da noch der nahende Wintereinbruch und der Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan, die den Waffengang erschweren dürften; im Winter wird ein Einsatz am Boden noch riskanter, als er es bisher gewesen wäre.
Das kleinere Übel
Die einzig moralisch sensible Option, die nebenbei auch dem wohl verstandenen Eigeninteresse der Allierten dienen würde, wäre die sofortige und endgültige Einstellung der Bombardements. Aber die wird sogar von jenen, die die Sinnlosigkeit der Luftschläge eingesehen haben, aus einem Grunde abgelehnt: Ein sofortiger Stopp würde in der islamischen Welt als Eingeständnis einer Niederlage der USA verstanden und somit als Anreiz zu weiteren Verbrechen dienen.
Dieser Einwand ist ernst zu nehmen – jedenfalls ernster als das hilflose Gestammel deutscher Politikerinnen, die die Streubomben auf afghanische Kinder zum Befreiungskrieg gegen das Patriarchat umdeuten wollen. Ernster auch als die paranoide Annahme, Ussama bin Laden wolle in Pakistan und Saudi-Arabien an die Macht, um die ganze Welt zu islamisieren: Mullahs von Peking bis Luxemburg.
Ein sofortiges Ende der Bombardements scheint jedenfalls dann, wenn ansonsten alles so bleibt, wie es ist, sinnlos: wenn etwa der Westen weiterhin Regime und Staaten unterstützt, die die legitimen Interessen islamischer Ethnien (wie in Tschetschenien) oder islamischer Bevölkerungen (wie in Saudi-Arabien oder Algerien) mit Füßen tritt. Ein Ende des Luftterrors scheint sinnlos, wenn der Westen die arabisch-islamische Welt weiterhin als störendes soziopolitisches Umfeld von Erdöllagern ansieht und nicht als Probe aufs Exempel der viel beschworenen Inter- und Multikulturalität; die freilich stellt sich im Rahmen der Weltgesellschaft als etwas ungemütlicher dar als im muttersprachlichen Unterricht oder an der nächsten Dönerbude.
Vor allem scheint ein Aussetzen des Waffengangs sinnlos, wenn der Westen das Einzige, das er anzubieten hätte, nämlich Demokratie und Rechtsstaat, im eigenen Handeln verhöhnt: wenn er etwa Diktatoren wie Pakistans Putsch-Staatschef Muscharraf umwirbt und weltinnenpolitische „Polizeiaktionen“ ohne Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit der Mittel durchführt. Daraus folgt: Da all diese Veränderungen derzeit anstehen, muss als kleinstes vertretbares Übel weitergebombt werden.
Nun lässt sich in realpolitischen Zeiten kaum noch mit Leid und Tod von Frauen oder Kindern argumentieren. Als reif erscheinen vielmehr jene Politiker und Kommentatoren, die bereit sind, den Tod der Fernen und Fremden hinzunehmen. Ist also angesichts einer nicht absehbaren Bereitschaft des Westens, seine Haltung dem Süden gegenüber grundsätzlich zu ändern, das Bomben wenigstens so lange unabdingbar, bis es irgendeinem Warlord gelingt, sich für eine Weile an Stelle der Taliban in Kabul zu etablieren? Nein.
Ein sofortiges Ende des Bombardements ist auch ohne die notwendigen, flankierenden Maßnahmen sinnvoll. Es würde erstens die Wahrscheinlichkeit einer humanitären Katastrophe, von der die afghanischen Flüchtlinge bedroht sind, mindern und damit zweitens einen Beitrag zur Stabilität der Region, zumal in Pakistan, leisten. Es würde drittens Diktatoren weltweit signalisieren, dass sie auf westliche Unterstützung nicht um jeden Preis rechnen können und damit bedingungsloses Eintreten für westliche Wirtschaftsinteressen bei Vernachlässigung der Menschenrechte nicht mehr automatisch belohnen.
Viertens wären nicht wenige islamisch-arabische Regime gezwungen, sich auch selbst Gedanken darüber zu machen, wie sie auf die Bedrohung von Gruppen wie al-Qaida reagieren sollen, die von ihnen unterstützt wurden. Die saudischen Prinzen jedenfalls können sich den Skandal ihrer heuchlerischen und sozial ungerechten Diktatur nur deshalb leisten, weil sie sich westlichen Beistands sicher sind – stärker übrigens als der Staat Israel, dessen Interessen hier noch zuerst preisgegeben würden.
Fünftens schließlich könnten wir im Westen nach dem 11. September eine „Kultur der Niederlage“ (Wolfgang Schivelbusch) entwickeln und in ihr das entfalten, was zu lernen wäre, wenn man den Begriff der „Globalisierung“ nicht ökonomistisch verkürzt. Wir hätten zu lernen, dass – wie Jürgen Habermas es in seiner Friedenspreisrede sagte – unsere Form der Säkularisierung vernichtende Züge trägt; dass wir – wie die indische Schriftstellerin Arundhati Roy es immer eindringlicher einklagt – das Leid im Süden einfach nicht wahrhaben wollen; dass wir, wenn wir diesen Krieg weiterführen, als nächsten Schritt auch bereit sein werden, weitere, noch verheerendere Feldzüge zu unternehmen.
Krieg um Rohstoffe
Die nach der Billigung des Sicherheitsrates veränderte kriegsvölkerrechtliche Lage wird es künftig zulassen, die Zerstörung von Pipelines westlicher Ölgesellschaften als Selbstverteidigungsmaßnahme zu betrachten. Damit werden die Rohstoffkriege, die Nato und Bundeswehr schon seit langem in ihre Planungen aufgenommen haben, wahrscheinlicher. Dann könnte die Welt sich bald wieder dort befinden, wo sie sich zu Hochzeiten des Imperialismus schon einmal befand. Als glaubten sie selbst nicht mehr an die von ihnen apostrophierte „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA, erklären Kanzler Schröder und Außenminister Fischer inzwischen, dass der gegenwärtige Waffengang im eigensten Interesse der deutschen Bevölkerung liege. Es habe sich um einen Anschlag auf unsere Lebensweise gehandelt.
Aber sogar wenn man davon absieht, dass dies in erster Linie zunächst ein Mord an tausenden von Menschen und ein Seelenmord an ihren Angehörigen und Freunden war, muss die Frage erlaubt bleiben, was denn den Kern unserer Lebensweise ausmacht. Die Freiheit von Angst allein – und nichts anderes ist Sicherheit – kann es jedenfalls nicht sein. Könnte es sein, dass zu unserer Lebensweise auch gehört, eher einen Schuldigen entkommen zu lassen, als unzählige Unschuldige zu opfern?
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