: „Die Zeit läuft gegen die USA“
Flexible Gegner wie die Taliban machen der US-Armee zu schaffen, sagt der Politologe Gabriel Kolko: „Einen solchen Krieg hat sie noch nie gewonnen.“
Interview: SVEN HANSEN
taz: Was ist die neue Qualität des gegenwärtigen Krieges?
Gabriel Kolko: Erstmals wird ein Krieg auf dem Boden der USA ausgetragen. Das ist eine sehr dramatische Neuerung. Zur Zeit der Blockkonfrontation wusste man, wer der Gegner war, wo er angreifen würde und was man dann zu tun hatte. In der jetzigen Situation, ohne hegemonialen Herausforderer, ist der Feind viel abstrakter und schwieriger.
Welche Auswirkungen haben die Anthraxfälle?
Die Angriffe mit Anthrax sind vor allem aus psychologischen und wirtschaftlichen Gründen verheerend. Doch weder FBI noch CIA wissen, woher die Angriffe kommen. Die führende Hypothese ist, dass die Täter durchgeknallte Amerikaner sind, wozu auch Veteranen zählen könnten, die ihr Handwerk in der eigenen Armee gelernt haben. Das hieße, die USA wären eine Nation mit Bürgern, die zum biologischen Krieg gegen ihre eigenen Landsleute bereit sind. Das wäre doch bedenklich für die führende Weltmacht.
Wie bewerten Sie die Strategie der US-Regierung?
Die USA bekämpfen einen dezentral operierenden Gegner. Einen solchen Krieg haben sie in der Dritten Welt noch nie gewonnen. In Korea haben sie allenfalls ein Patt erreicht, aber nicht ihre Ziele. In Vietnam haben sie definitiv verloren.
Wo sehen Sie Parallelen zum Vietnamkrieg?
Wie damals setzen die USA Hightechwaffen gegen einen dezentral operierenden Gegner ein. Saddam Hussein war im Golfkrieg so dumm, seine Truppen zu konzentrieren. Diesen Fehler machten die Vietnamesen nicht, und die Taliban offenbar auch nicht. Die USA haben das Problem, dass ihre gesamtes Waffenarsenal dafür entwickelt wurde, konzentrierte sowjetische Basen und Städte zu zerstören. Doch mit solchen Zielen waren die USA in den realen Kriegen seit den 50er-Jahren eigentlich nicht mehr konfrontiert.
Für welche Seite arbeitet in diesem Krieg die Zeit?
Je länger der Krieg dauert, desto mehr sieht er nach einer weiteren militärischen Niederlage der USA aus. Zeit ist in einer kapitalistischen Industriegesellschaft Geld. Die US-Regierung kann es sich nicht leisten, mehr als sechs Monate lang Krieg zu führen. Die Öffentlichkeit ist anfänglich für Kriege zu haben, wie das auch bei Vietnam der Fall war. Aber die Vollblutpolitiker in Washington wissen, dass sie nicht lange im Amt bleiben, wenn sie den Krieg nicht bald beenden. Die Zeit arbeitet für ihre Gegner.
In „Das Jahrhundert der Kriege“ stellen Sie fest, dass Kriegsplaner ihre Entscheidungen nie voll überblickten und es immer zu unerwarteten Entwicklungen kam. Ist der jetzige Krieg solch ein Nebenprodukt früherer Kriege, also zum Beispiel des Afghanistankonflikts der 80er-Jahre?
Die USA wollten damals die Sowjetunion in einen langwierigen Krieg verwickeln, was dann sogar mit zu deren Zerfall beitrug. Die Mudschaheddin bekamen insgesamt rund drei Milliarden Dollar, und Bin Laden war ein Teil von ihnen. Nachdem die USA der UdSSR eine Falle stellten, sind sie nun selbst hineingetappt. Das ist die Ironie und bestätigt: Wer einen Krieg führt, wird dessen Komplexität nicht voll überblicken können.
Gibt es jetzt bereits Entwicklungen, die in Washington nicht antizipiert wurden?
Pakistan hat sich als sehr unzuverlässig erwiesen. Führende US-Medien haben kürzlich berichtet, dass Pakistans Geheimdienst den USA falsche und unbrauchbare Informationen liefert, weil er selbst auf al-Qaida angewiesen ist. Ohne al-Qaida fehlen Pakistan die antiindischen Kämpfer in Kaschmir. Pakistans Präsident drängt auf ein schnelles Ende des Krieges, weil wer sonst innenpolitisch in große Schwierigkeiten gerät. In Pakistan gibt es schon heute einige tausend bewaffnete Islamisten. Bald könnten die USA dort das gleiche Problem bekommen wie in Vietnam: dass sie ihre Stützpunkte mit vielen Soldaten schützen müssen, wenn die Pakistaner erst mal anfangen, auf US-Soldaten zu schießen.
Was ist für die USA das Szenario des schlimmsten Falles?
Das „Worst Case Scenario“ ist eine Destabilisierung Pakistans, und dass dessen 20 bis 30 Atombomben in die Hände radikaler Islamisten fallen. Damit wäre die Gefahr eines Atomschlags größer als sie je bei der Sowjetunion oder China bestand. Auch eine Destabilisierung Saudi-Arabiens und des gesamten Nahen Ostens wäre beunruhigend.
Wie bewerten Sie die „internationale Koalition gegen den Terrorismus“?
Die Amerikaner scheinen auf einmal alles vergessen zu haben. Noch vor sechs Monaten war Bush ein Unilateralist, der das Kioto-Protokoll und andere multilaterale Abkommen zurückwies. Jetzt will er plötzlich Koalitionen. Der deutsche Außenminister und der Kanzler nehmen das auch noch für bare Münze. Dabei haben die USA doch gezeigt, was für eine instabile Nation mit so einer Führung sie sind. Europas Führer sollten einsehen, dass die Strategie der USA zum Scheitern verurteilt ist. Die USA dominieren bald jeden Winkel der Erde, und es ist die Verantwortung der Europäer, den USA klar zu machen, dass sie ihre Verbündeten nicht überall mit hinnehmen können. Gerade Deutschland als wichtigstes Land in Europa hat hier eine besondere Rolle.
Wie bewerten Sie die Planungen für die Nachkriegszeit?
Sie zeigen, wie verzweifelt die USA sind. Die Amerikaner versuchen die verschiedenen afghanischen Fraktionen unter einen Hut zu bekommen. Nach wochenlangen Verhandlungen müssen sie jetzt wohl mit der Nordallianz zusammenarbeiten, die sie eigentlich gar nicht mögen. Das schafft Probleme mit den Pakistanern, die die Nordallianz als Monster und russische Agenten betrachten. Es gibt nur wenig Hoffnung, dass den USA gelingt, woran andere bereits scheiterten, nämlich Afghanistans Politik neu zu strukturieren. Selbst wenn die USA den Krieg militärisch gewinnen, wird es für sie noch schwieriger, die politischen Probleme zu lösen.
Über den Sieg entscheidet auch die Propaganda. Wie schneiden die USA dabei im Vergleich zu Bin Laden und al-Qaida ab?
Ich halte die Propaganda der Islamisten für puren Blödsinn. Aber es ist offensichtlich, dass die US-Regierung Probleme hat, ihre nicht kohärente und improvisierte Strategie zu verkaufen. An die glauben doch nicht einmal alle im Pentagon. Es gibt eine deutliche Spaltung zwischen den Militärs einschließlich Verteidigungsminister Colin Powell und den rechten Pentagon-Intellektuellen wie Verteidigungsstaatsseketär Paul Wolfowitz und Vizepräsident Dick Cheney, die einen weiteren Krieg gegen Irak kämpfen wollen. Das hieße, die ganze Golfregion zu destabilisieren. Die Extremisten wie Wolfowitz repräsentieren genau dieses verrückte Denken, das ich in meinem Buch bei den Strategen in Deutschland, Großbritannien und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg festgestellt habe.
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