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Mensch-Maschine-Karussell

■ Die Companhia de Danca Deborah Colker veranstaltet auf Kampnagel mit „Rota“ ein akrobatisches Popereignis – und ist damit ganz offensichtlich am falschen Ort gelandet

Das Rad erfunden hat Deborah Colker wohl kaum. Doch wenn sich die 17 Tänzerinnen und Tänzer samt ihrer Choreografin in das gigantische Rund schwingen und es im Wiener Walzertakt selig zu rotieren beginnt, dann scheint es einfach wie für sie gemacht zu sein: ein Mensch-Maschine-Karussell. Es dauert nicht lange, dann hat sich der gesamte Bühnenraum in einen einzigen Kreislauf verwandelt, durch den die Tänzer sich in kleinen und größeren Schleifen hindurchwinden, mitunter gar zu fliegen scheinen.

Waghalsig und spielerisch werden Drehmoment und Schwerkraft immer wieder ausgelotet. Und wenn es den TänzerInnen dann noch gelingt, dieses Riesenrad durch Austarieren ihres eigenen Gewichts in voller Fahrt zu stoppen, dann hält auch das Publikum kurzzeitig den Atem an. Ein Besuch in Disneyland, verrät der Programmzettel, habe die Choreografin zu ihrem Tanzspektakel Rota inspiriert, mit dem die Companhia de Danca Deborah Colker aus Rio de Janeiro bis Sonnabend auf Kampnagel gastiert.

Vor dem Hintergrundprospekt eines Schnittmusterbogens mit seinem Gewirr aus Tupfen- und Strichellinien spielt der erste Teil der Show. Ein bunter, gleichwohl hoch disziplinierter Tanzspaß. Puppenhafte Ballerinen stürmen die Bühne, mit smarten, athletischen Jungen an ihrer Seite. Punktgenau drehen sie ihre Pirouetten, und inmitten kraftvoll getanzter Ballettvariationen kratzen sie sich auf einmal den Kopf. Die rhythmisierte Alltagsgestik des Tanzes der 80er Jahre hat Colker in mechanische Automatismen überführt, die sie nahtlos in die Tanzschablonen einfügt. Doppelte Ironie, die auf Dauer dann doch weniger amüsant als albern wirkt.

Der Mensch als Aufziehpüppchen. Mozarts Musik bringt das revueartige Spektakel in Schwung. Und für einen Augenblick fragt man sich, ob man sich womöglich im Theater geirrt hat und statt auf Kampnagel im Musicalpalast Neue Flora gelandet ist. Einen flotten Stilmix hat Deborah Colker zusammengestrickt, der so banal wie kurzweilig unterhaltsam ist. Doch nach der Pause weiß man, dass der erste Akt nur eine Aufwärmübung war.

Dann öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick auf das rohe, rostbraune Metallrad frei, umrahmt von Leiterkonstruktionen, die in den Bühnenhimmel ragen. Theaternebel weht ein Hauch von Industrieromantik herein. Traumartig schwerelos tasten sich die TänzerInnen durch diese surreale Szenerie. Ihr eingangs rasantes Tempo haben sie auf Zeitlupengeschwindigkeit heruntergeschraubt. Menschenketten fügen sich wie Zahnräder ineinander. Eine Frau balanciert über die Schultern dieses sich immer wieder von hinten nach vorne aufrollenden Bandes.

Meyerholds Theater der Biomechanik der russischen Avantgarde zu Beginn des letzten Jahrhunderts scheint mit der Companhia de Danca seine Auferstehung zu feiern – mit blutjungen TänzerInnen in knappen Trikots, die hier die athletische Schönheit ihrer Körper ausstellen. Geschmeidig, elegant reizen sie die Hebelgesetze nach allen erdenklichen Regeln aus. Und kaum hat man sich versehen, da haben zwei die Leitern erklommen und lassen sich nun kopfüber hinabgleiten. Dann nimmt die Geschichte ihren schwindelnd kreisenden Lauf.

Unter den TänzerInnen befindet sich auch die Chefin der Compagnie – blond, zierlich, ein drahtiges Energiebündel und mit ihren 40 Jahren noch kein bisschen müde. Sie ist der Motor der 1994 gegründeten Truppe. Den Tanz hat sie zu einem Popereignis aufgepeppt, mit dem sie nun von ihrer Heimatstadt Rio de Janeiro aus die internationalen Tanzbühnen erobert. Mehr als 200.000 Zuschauer hat Deborah Colker mit ihrem Tanzzirkus Rota seit der Premiere 1997 bereits in Schwebezustände versetzt und damit, wie jetzt in Hamburg, wohl jedes Mal Begeisterung geerntet.

Marga Wolff

 nur noch Sonnabend, 20 Uhr, Kampnagel (k6)

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