: Die Rückseite von Prag
Pornografie zweiter Ordnung: Wiktor Grodeckis Film „Mandragora“ über den schwulen Sexmarkt in der tschechischen Hauptstadt setzt auf eine Drastik, die an Zynismus grenzt
Kurz nach der Wende avancierte Prag zu einer Hauptstadt der homosexuellen Pornografie. Ein paar US-Pornoprofis verhalfen dem örtlichen Gewerbe schnell zu einer Gründerzeit, und heute haben Schwulenpornos aus Tschechien einen deutlichen Marktanteil, sind als Marke etabliert und haben eine Brigade eigener Stars durchgesetzt.
Vor diesem Hintergrund ist „Mandragora“ angesiedelt. Der Film von Wiktor Grodecki aus dem Jahre 1997 variiert ein Thema, von dem er sich schon in seiner Dokumentation „Not Angels but Angels“ fasziniert gezeigt hatte: Männliche Engel, die aus dem Himmel ihrer Schönheit stürzen, nicht ohne zuvor ihre Körper auf dem Altar der Ausbeutung dargebracht zu haben.
Marek braucht am Prager Bahnhof nicht viel Zeit um festzustellen, dass dort nicht nur schienengebundene Dienstleistungen vermarktet werden. Der Zuhälter Honza erkennt seinerseits die frische Chance, und so nimmt die Geschichte ihre unweigerliche Fahrt nach unten auf. Prostitution, das reimt sich schnell auf Gier, Drogen, Verfall, Erniedrigung und Aids. Und am Ende beweist eine kalte Kreisbewegung die völlige Austauschbarkeit der Körper.
Kein Klischee wird von Grodecki ausgelassen, aber dessen zweifellos eigene Wahrheiten helfen hier nicht weiter. Die Rückseite des Pathos ist vielmehr eine vom eigenen Realitätsgehalt sehr überzeugte Drastik, die sich von Zynismus nicht immer unterscheidet. Grodecki lässt wirklich nichts aus: Sex mit Kindern, Sadomasochismus, Aktionen gerne auch ohne Kondom („Aids haben wir sowieso alle“), Familien beim Abendbrot, während Vater im Nebenzimmer „Western“ dreht. Dabei öffnet sich mitunter ein witziges und gut besetztes Kabinett von Freier-, Stricher- und Zuhältertypen. In letzter Instanz speist sich Grodeckis Tabubruch aber vor allem aus einer Quelle: aus dem Prestige, das bei ihm der Mann und das Männliche genießt.
Das Problem und eigentlich Ärgerliche an diesem Film ist jedoch, dass sich das, was eine Aufsicht ist, als dokumentarischer Binnenblick ausgibt, der „sozialkritische Wunsch“ mit einer interessegesteuerten Faszination versuppt. „Mandragora“ blickt gleichzeitig erwachsen und kennerisch, erbarmungslos und verklärend auf sein Thema. Diese Haltung ist Larry Clarks Fetischismen nicht unähnlich, lässt aber den jugendlichen Figuren wesentlich weniger Spielraum. Man könnte in diesem Film auch eine Pornografie zweiter Ordnung sehen, etwa im Sinne des Wim-Wenders-Bonmots, demzufolge auch Antikriegsfilme Kriegsfilme sind. Das Spezifische dieses Typs von Prostitution, ihre Funktion in nachkommunistischen Gesellschaften als Exportartikel und Austauschphänomen, wird nicht zur Sprache gebracht. MANFRED HERMES
„Mandragora“. R: W. Grodecki, CZ 98
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