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Mit Fingerspitzengewalt

Ein kondomzartes Textilvergehen entscheidet das vorentscheidende Klassematch um den zweiten Platz: Leverkusen schlägt Kaiserslautern 2:1 und bleibt auch im zwölften Bundesligaspiel unbesiegt

aus Leverkusen BERND MÜLLENDER

Für Klaus Toppmöller, Bayers so erfolgreichen Trainer, war es schlicht „ein Bombenspiel“, garniert mit einer Leverkusener „Siegermentalität, die ihresgleichen sucht“. Kollege Andy Brehme war trotz der 1:2-Niederlage nach Führung durch Jeff Strasser „stolz, was wir abgeliefert haben“. Ergänzt um den brehmetypischen, weil annäherungsweise sinnhaften Satz: „Ich bin mit dem Verlauf, den wir abgeliefert haben, sehr zufrieden.“

Ein tolles Match war es, in der Tat. Halbzeit eins hatte viele taktische Feinheiten geboten – unter anderem, dass sich ein defensivgeiles, kampfstarkes Team wie Kaiserslautern einen Mario Basler erlauben kann –, Halbzeit zwei das, warum wir alle den Fußball so lieben: Einen offenen Schlagabtausch mit vielen prickelnden Chancen hier wie da, Szenen zum Haareraufen, krachende Schüsse. Fast alles fußte auf eigenen Künsten und nicht auf Fehlern der anderen. Dazu kamen personelle Spezialitäten wie Ze Robertos begeisternde Hackedoppelpässe und sein so wunderschön getänzeltes Übersteigerstakkato im Stand. Oder Baslers immer teuflisch gefährliche Freistöße und Ecken.

Dennoch: Um das Ergebnis zu verstehen, muss man etwas weiter gucken.

Zurück nämlich. Die Dinge haben sich entscheidend entwickelt und verfeinert. Früher musste ein Kicker den Ball fein füßeln können; alles über Hüfte diente mehrheitlich dazu, den Kopf an seinem Platz zu halten. Dann kam Franz Beckenbauer, der nicht nur „an Finger erinnernde Zehen hatte“, wie mal jemand über den nackichten Kaiser staunte, sondern anfangs auch einen unterentwickelten hühnerbrüstigen Oberkörper. Erst als er den stählte, wie der Franz später einmal plauderte, habe er die Robustheit für seine so große, elegante Karriere gefunden.

Heute sind die Verhältnisse noch differenzierter. Ohne eine gewisse physische Bulligkeit, so das gesicherte Branchenwissen, kommt ein filigraner Verbund von Fußwerkern nicht in Zweikämpfe, somit nicht in Ballbesitz, nicht zum Spielaufbau, nicht zum Torschuss, nicht zum Erfolg. Und: Man muss auch die Hände, jetzt sogar schon die Fingerspitzen richtig einsetzen: zum Grabschen, Unterstützen von Unschuldsgesten, Reklamieren, Rempeln, vor allem Trikotzupfen. Macht man das allerdings zu auffällig, kann es sein, dass ein Schubserchen, mit dem man kein Kind auf der Schaukel in Schwung bekäme, ein tolles, mitreißendes Bundesligaspiel entscheidet.

Womit wir bei Harry Koch sind. Der Lauterer Manndecker hatte nach 50 Minuten Leverkusens Sturmveteran Ulf Kirsten einen Hauch von Fingerspitzenstubser verpasst, der den Angreifer, soeben zum Kopfball abgehoben, aus der Flugbahn brachte. Und den vor allem der Schiedsrichter besser gesehen hatte als nachher jede Kamera. Kurzum: Elfmeter. Der überragende Ballack (Toppmöller: „Eines der Aushängeschilder im deutschen Fußball“), schon Schütze zum Ausgleich, trifft locker. 2:1. Spiel entschieden.

Die Lauterer hatten somit allen Anlass, die Niederlage nach gutem Spiel auf eine vermeintlich alberne Fehlentscheidung zurückzuführen: Andreas Brehme wollte nicht mal Stellung nehmen zur entscheidenden Szene. Profiteur Toppmöller hatte dagegen leicht Beobachten beim „klaren Textilvergehen“, wie er den kondomzarten Körperkontakt nannte: „Koch war klar an Ulf Kirsten dran.“ Auch wenn man vermuten kann: Wird so etwas künftig immer gepfiffen, dürften Fußballspiele bald nur noch aus Elfmeterschießen bestehen.

Die ungemein selbstbewussten Leverkusener sind mit neun Siegen nach zwölf Spielen als einziges Bundesligateam weiter ungeschlagen. Platz zwei scheint, darauf wollte Manager Reiner Calmund mit einer seiner Wasserfallreden nachher hinaus, bei fünf Punkten Vorsprung vorläufig zementiert. „Wir können uns nur selbst schlagen“, ist Standardsatz geworden in Leverkusen. Und nicht mehr freches wie erfolgloses Aufbegehren wie unter Daum, sondern Understatement: „Was sollen wir uns an den den Bayern orientieren?“, fragt Klaus Toppmöller, dass man es fast glauben möchte, es sei „unfair, uns mit den Bayern zu vergleichen“. Also: Platz zwei, den sie so oft erlitten haben, ist jetzt das Ziel. Zudem freuen sich alle auf die Champions-League-Zwischenrunde mit den attraktiven Widersachern Arsenal, Juve und La Coruña. In den brehmenahen Worten von Torwart Jörg Butt: „Wir können da gegen jeden Gegner mithalten.“

Bayer Leverkusen: Butt - Schneider, Zivkovic, Nowotny, Placente - Ballack, Ramelow, Bastürk, Ze Roberto (85. Vranjes)- Kirsten (71. Sebescen), Neuville (90. Brdaric)1. FC Kaiserslautern: G. Koch - H. Koch, Hengen, Strasser - Basler, Ramzy (84. Adzic), Klos, Riedl, Grammozis (87. Buck) - Lokvenc, KloseZuschauer: 22.500; Tore: 0:1 Strasser (18.), 1:1 Ballack (35.), 2:1 Ballack (50./Foulelfmeter)

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