: Nach der Fürbitte auf die Straße
Nach den Liedern und Gebeten erfolgt die eher ungewöhnliche Einladung an die Gemeinde, sich an der anschließenden Demonstration zu beteiligen
aus Leipzig SUSANNE AMANN
Es gibt dankbarere Tage, um gegen Krieg und für Frieden zu protestieren. Es ist später Nachmittag am diesem letzten Oktobermontag in Leipzig. Ein kräftiger Herbstwind treibt Blätter vor sich her, Passanten eilen mit hochgeklappten Mantelkragen durch die feuchte Kälte. Vor der Nikolaikirche kniet ein Bettler, der den Besuchern stumm die geöffnete Hand hinhält.
In der Kirche sitzen die ersten Menschen auf den weißen Holzbänken, es werden in den nächsten Minuten immer mehr, bis es etwa 150 sind, die Pfarrer Christian Führer in der Nikolaikirche zum Friedensgebet am Montag begrüßt. Klein und eher unauffällig steht er am Mikrofon, über dem schwarzen Rolli und der Jeansjacke trägt er eine Lederjacke; in der Kirche ist es nicht warm. „Gewalt ist ansteckend, genau wie wir befürchtet haben“, leitet Pfarrer Führer die Andacht ein (siehe Interview). „Hunderte von pakistanischen Kämpfern machen sich jetzt nach Afghanistan auf, um den Taliban zu helfen. Gewalt hat Hochkonjunktur, wie es scheint.“ Nach den Worten zur aktuellen politischen Lage noch die Bitte an die „Autonomen unter uns“, sich nicht an Krawallen anlässlich der Nazi-Demonstration am 3. November zu beteiligen (siehe Kasten oben).
Dann bekommt die Pax-Christi-Gruppe das Wort, die den Gottesdienst heute gestaltet. Die Kirche ist fast voll besetzt: mit Studenten, jungen Müttern mit kleinen Kindern, älteren Ehepaaren und Touristen, denen der Reiseführer aus der Tasche guckt. Es geht wohl vielen so wie Anne Beyer, die ihr Kommen so begründet: „Wenn ich das Gefühl habe, dass ich nichts ändern kann, dann ist es für mich immer noch tröstlicher, wenn ich Gott dabei mit einbeziehen kann.“
Nach Liedern, Gebeten und der Fürbitte kommt eine halbe Stunde später die eher ungewöhnliche Einladung, sich an der anschließenden Demonstration zu beteiligen: „Lasst nun den Frieden vom Kopf in die Füße gelangen.“ Draußen ist es dunkel geworden, trotzdem warten etwa 300 Leute in der engen Straße zwischen Nikolaikirche und der gegenüberliegenden Einkaufspassage, um zu demonstrieren. Der „Aktionskreis Frieden“ hat seit den Anschlägen in den USA jeden Montag zur Demonstration aufgerufen. Der Kreis gehört nicht zur Nikolaikirche, aber der Treffpunkt ist mit Pfarrer Führer abgesprochen.
Wenn man ihn nicht kennt, fällt es ein bisschen schwer, den Grund für die Demonstration zu erahnen. Eine einsame, selbst gemalte Friedenstaube streckt sich neben leuchtend gelben Plakaten in die Luft, auf denen ein Forum für soziale Gerechtigkeit „Arbeit für Millionen statt Milliarden für den Krieg“ fordert. Später, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, taucht vorne noch ein Spruchband auf: „Frieden schaffen ohne Waffen“.
Aus einem zerbeulten weinroten VW-Bus knattert Bettina Wegner, die Musik lotst den Zug durch die Innenstadt, vorbei an der Mädlerpassage auf den Platz vor dem alten Rathaus. „Bei diesem Krieg geht es nur um Macht, um Öl und um Einfluss“, setzt Torsten Schleip, einer der Organisatoren, beim ersten Stopp als Sprecher an. Die US-amerikanischen Bombenangriffe, Schilys Sicherheitspaket, der Sozialabbau und der unzureichende Aufbau Ost, es gibt nichts, was nicht erwähnt werden müsste.
Inzwischen sind es fast 500 Menschen, was wohl der zentralen Lage geschuldet ist. Eine Frau mit zwei großen grünen Plastiktüten hört mit einem Ohr zu, während sie versucht, ihre quengelnde Tochter mit Pommes zu füttern. Ein wenig abseits des VW-Busses gibt es leisere Töne. „Der Krieg ist einfach keine Lösung, er ist genauso ein Angriff auf die Zivilgesellschaft wie die Angriffe auf das World Trade Center“, sagt Uta Volkmann, eine 24-jährige Politikstudentin. „Politische Institutionen wie ein internationaler Gerichtshof wären eigentlich gefragt, sich um Bin Laden zu kümmern. Und es ist niederschmetternd, wie alle es hinnehmen, dass man keine politischen Lösungen sucht.“
Für Carsten Pilz, einen Ethnologie- und Psychologiestudenten, sind es aber auch innenpolitische Gründe, die ihn auf die Straße bringen: „Was Schily mit seinem Sicherheitspaket vorhat, das ist für mich nicht nur eine Einschränkung der Freiheitsrechte, sondern das grenzt an einen Überwachungsstaat. Da soll sich keiner mehr über die DDR beschweren.“
Am Straßenrand hat eine Frau einen der Infozettel in der Hand, sie blickt den Vorbeiziehenden immer wieder kopfschüttelnd hinterher. „Wen soll das denn ansprechen, sagen Sie mir das mal! Was würden die denn machen, wenn die Terroristen hierher kämen? Sie mit einem Lächeln freundlich empfangen?“ Ihre blauen Augen blitzen empört, voll Unverständnis für den Protest. „Wir müssen uns doch wehren“, erregt sie sich und meint mit „wir“ wohl die westliche Welt. Und die Angst? „Ach was, Angst, ich habe keine Angst, ich könnte ja nicht mehr frei leben, wenn ich mir Angst machen ließe!
Der Demonstrationszug ist inzwischen auf dem Platz vor dem Bahnhof angekommen. Die Gruppe der Demonstranten ist auf vielleicht 50 Personen geschrumpft, sie fallen inmitten der nach Hause eilenden Passanten kaum noch auf. Im Hintergrund leuchtet hell und orange eine Schautafel mit der Werbung für das Wochenangebot von Obi. Noch mal melden sich die Redner zu Wort, und wieder scheint der Naziaufmarsch am 3. November die Gemüter mehr zu erhitzen als Krieg oder Frieden. Zu guter Letzt dürfen dann auch noch mal alle ans Mikrofon, die „was dazu zu sagen haben“. Und so kommt es, dass der Sprecher der neugegründeten Attac-Gruppe Leipzig die Nummer des Hörsaals durchgibt, in dem das nächste Treffen stattfindet. Eine junge Frau liest in breitestem Schwäbisch eine Stellungnahme von US-Gewerkschaften zu den aktuellen Ereignissen vor. Ganz zum Schluss, bevor die letzten Zuhörer weggetröpfelt sind, kommt dann noch Anne. „Also ich bin die Anne, ich habe am Freitag in den Nachrichten gesehen, dass bei den Angriffen der USA in Afghanistan eine 8-köpfige Familie umgekommen ist. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich das nicht gut finde, so was muss echt nicht sein!“
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