: Bereit zur Arbeit
Gerichtsurteil: Ärztliche Bereitschaft ist Arbeit. Mindestens 70 Mediziner mehr allein an Hamburgs Kliniken nötig ■ Von Kai von Appen und Sandra Wilsdorf
Ein Jahr nach dem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu Bereitschaftsdiens-ten im öffentlichen Dienst hat das Kieler Arbeitsgericht gestern eigentlich geltendem Recht zu einem weiteren Stückchen Durchbruch verholfen. Mit den klaren Worten des Vorsitzenden der 1. Kammer, Gregor Stedle, „Bereitschaftsdiens-te sind Arbeitszeiten“, gaben die Arbeitsrichter dem Assistenzarzt vom städtischen Krankenhaus Norbert Jaeger Recht. Noch im Gerichtssaal kündigte die Kieler Krankenhausdezernentin Annegret Bommelmann Berufung an: „Im Interesse aller Seiten wollen wir eine endgültige Klärung haben.“
Die Richter am EuGH waren im Oktober 2000 in einem langwierigen Grundsatzverfahren der Klage eines spanischen Arztes gefolgt und hatten Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit definiert, die auch als solche bezahlt werden müsse. Trotz des für Europa bindenden Richterspruchs weigert sich die öffentliche Verwaltung bislang, das Urteil umzusetzen. Bislang galten nach deutschem Arbeitsrecht Bereitschaftszeiten, in denen nicht komplett gearbeitet wird, als „Ruhezeiten“.
Das Kieler Gericht bejahte nun den Arbeitszeitbegriff des EuGH, wonach „Bereitschaftsdienste im Sinn der angeordneten Anwesenheit als Arbeitszeit anzusehen sind“. Auf Ausnahmeregelungen könne sich die Stadt nicht berufen.
Für den Kläger Norbert Jaeger hat das Urteil „Signalwirkung“, auch wenn es keine unmittelbaren Auswirkungen habe. „Die Stadt hat gar nicht die Möglichkeiten, das jetzt umzusetzen.“ Der Marburger Bund geht davon aus, dass zur Umsetzung des Urteils bundesweit 15.000 neue Ärzte eingestellt werden müssten. Die Gewerkschaft ver.di rechnet sogar mit 18.000 Ärzten und außerdem rund 6000 Schwestern und PflegerInnen. Die Kosten schätzt ver.di auf jährlich rund 700 Millionen Mark. „Für ausgeruhte Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger müssen höhere Kosten in Kauf genommen werden“, sagt die für das Gesundheitswesen zuständige Fachsekretärin Berith Jordan.
Für Jürgen Abshoff, Geschäftsführer der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft (HKG), ist das Ganze nur „viel Geschrei um nichts Neues“. Das Kieler Urteil werde in Hamburger Krankenhäusern praktisch nichts ändern, bis nicht alle Instanzen durchlaufen sind.
Die Berechnungen von Marburger Bund und ver.di hält Abshoff nicht nur für theoretisch, weil so viele Mediziner auf dem Arbeitsmarkt bei weitem nicht zur Verfügung ständen, sondern auch „für eine Milchmädchenrechnung“. Denn natürlich würde die HKG das Modell nicht eins zu eins umsetzen, „sondern wir würden Schichtdiens-te rund um die Uhr einführen“.
Der Landesbetrieb Krankenhäuser (LBK) hatte schon im Juni ein entsprechendes Modell vorgestellt. Damit die Schichten dann zu 100 Prozent mit Arbeit ausgefüllt sind, würde – so die Rechnung – ein Schichtdienstler bis zu drei Bereitschaftsdienstler ersetzen. Für den LBK würde das neue System 70 bis 80 Neueinstellungen bedeuten.
Bereits im Dezember steht die Klage des Leitenden Oberarztes der Chirurgischen Klinik Kiel, Wolfram Priesack, beim Arbeitsgericht zur Entscheidung an.
Tipp: Gerhard Becker, Dr. Klaus Bertelsmann, „Höchstgrenzen der Arbeitszeit“, Rechtlicher Leitfaden, herausgegeben von ver.di Hamburg
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