: Radioaktive Taliban
Die Taliban verfügen über eine breite Medienpalette, die sie gezielt und effektiv zur Propaganda gegen den Feind einsetzen. Die Amerikaner und die Nordallianz hören und sehen fast tatenlos zu
von ROLAND HOFWILER
Die Truppen der Nordallianz stehen vor Masar-i Scharif. Es sei bloß eine Frage von Tagen, bis die Taliban-Hochburg eingenommen werde. Das meldet die Stimme Amerikas in ihren Sendungen für Afghanistan schon seit Anfang der Woche. Und der fliegende US-Propaganda-Sender „Commando Solo“ fordert die örtlichen Taliban-Verbände immer wieder zur Kapitulation auf: „Eure Stunden sind gezählt, Taliban-Kämpfer, ergebt euch, wir stehen vor den Toren Masar-i Scharifs, gegen unsere Waffen könnt ihr nichts ausrichten.“
Der Taliban-Sender „Radio Scharia“ kontert: „In Gottes, des Allmächtigen, Namen: Die Feinde Afghanistans und des Islams, darunter Russland, Indien, Tadschikistan, hofften mit Hilfe der amerikanischen Aggressoren uns zu vernichten. Doch schon ein Monat ist vergangen und Milliarden von Dollar lösten sich auf in Nichts, in Asche, in verbrannte Erde. Amerika hat nichts erreicht.“
So spricht „Radio Scharia“, dessen Sendemasten auf den umliegenden Bergen von Masar-i Scharif stehen. Wenn die mit den Amerikanern verbündeten Truppen der Nordallianz tatsächlich schon in Reichweite der Taliban-Hochburg stehen sollten, warum haben sie dann nicht als Erstes die Propagandastimme der Taliban übernommen oder ihre Frequenz gestört? Dieser Widerspruch lässt sich derzeit nicht auflösen. Tatsache ist allerdings, dass die Taliban – im Gegensatz zu den Amerikanern und der Nordallianz – täglich auf Sendung sind. Die Propaganda der Amerikaner, die mit Flugblättern für ihr Programm werben, ertönt nur sporadisch; auf „Radio Free Afghanistan“, den schon lange angekündigten US-Freiheitssender, wartet man vergeblich. Und die Nordallianz verharrt nach wie vor in Funkstille.
Dagegen verfügen die Taliban über eine breite Medienpalette. Neben „Radio Scharia“ verbreitet die „Afghanische Islamische Presseagentur“ rund um die Uhr Taliban-nahe Nachrichten. Zudem nimmt die Zahl der lokalen Sender zu, zumindest in Pakistan und im Iran, die zum Kampf gegen den „US-Imperalismus“ aufrufen. Die derzeit populärste Radiostation der Region, das iranische „Radio Maschad“, hat seinen Sendebetrieb am Mittwoch noch ausgeweitet und ist in ganz Asien zu empfangen.
Was von den zahlreichen Frontsendern der Taliban-Truppen zu halten ist, lässt sich aus der Ferne schwer einschätzen. Zumindest behaupten die zahlreichen Freiwilligenverbände, die vor allem aus Pakistan ins Kriegsgebiet einsickern, sie führten ihrerseits tragbare Sendeanlagen mit, um die Zivilbevölkerung über den wahren Charakter der US-Aggession aufzuklären. Auch den Einfluss der ausländischen Reporterteams im Land der Taliban darf nicht unterschätzt werden. In der westlichen Propaganda ist meist nur vom Fernsehsender al-Dschasira die Rede. Vergessen wird dabei, dass sich unzählige Journalistenteams im Land der Taliban aufhalten und überall dorthin geführt werden, wo die Zivilbevölkerung Opfer von Luftangriffen wurde. Diese Bilder flimmern selten nach Europa und in die Vereinigten Staaten, aber in andere Regionen der Welt. Allein aufgrund ihrer Anwesenheit vermitteln diese Reporter der Bevölkerung außerdem den Eindruck, die Weltöffentlichkeit sei allgemein gegen den amerikanischen Luftkrieg – was global gesehen wohl auch zutrifft.
Wie viele Fernsehteams sich in Afghanistan derzeit aufhalten, ist ein auch von den Taliban streng gehütetes Geheimnis. Deren PR-Agenten scheinen aber sehr wohl zu wissen, wen sie ins Land lassen und wen nicht. Zum Beispiel hat das jugoslawische Fernsehen von den Taliban eine Aggreditierung erhalten. Kein geringerer als der serbische Militärexperte Miroslav Lazanski berichtet derzeit aus Masar-i Scharif, das doch nach der US-Propaganda so umkämpft werde. Lazanski ist zumindest im ehemaligen Jugoslawien kein Unbekannter. In den vergangenen zehn Jahren war er in den serbischen Staatsmedien stets zur Stelle, um den „islamischen Separatismus“ der Albaner und Bosnier zu verurteilen, die er für den Zusammenbruch Jugoslawiens verantwortlich machte. Die Serben waren nach Lazanski die einzigen Opfer. Grund genug für die Taliban, einen solchen „Journalisten“ ins Land zu lassen. Und Lazanski ist wohl nicht der einzige, der das Ansehen der Taliban genießt und ganz in ihrem Sinn berichtet.
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