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„Leben wie in Ökotopia“

Wie will Katja Kipping (23) leben? In einer ökologisch umstrukturierten Gesellschaft. Die jüngste Abgeordnete im Sächsischen Landtag hat sich deshalb für die PDS entschieden – auch weil die Grünen das Wirtschaftssystem nicht mehr hinterfragen

Interview NICK REIMER

taz: Frau Kipping, wie politisch ist die Jugend heute?

Katja Kipping: Also wenn man den offiziellen Umfragen glaubt, sind nur zwei Prozent meiner Altersgruppe an Parteipolitik interessiert. Ich habe aber eine ganz andere Erfahrung. Wenn ich mit meinen Altersgenossen ins Gespräch komme, wenn sie selbst konkret von einer bestimmten Sache betroffen sind, beginnen sie sehr schnell, politisch zu denken und Zusammenhänge herzustellen.

Wie erklären Sie sich den Widerspruch?

Ich glaube, dass die Politik ein Marketingproblem hat. Politik hat den Ruf, langweilig, unehrlich und selbstzentriert zu sein. Ich spüre aber, dass bei Nachfrage das Interesse unheimlich groß ist.

Wir haben im Landtag öfter Schülergruppen. Die letzte habe ich gefragt: Ihr seht doch an mir, dass man auch als junger Mensch in den Landtag kommen kann. Angenommen, euch passiert das: Was würdet ihr verändern? Keine Antwort. Hinterher kamen dann einige zu mir und sagten: Sorry, wir sind nicht gewohnt, von Politikern gefragt zu werden. Politik bedeutet für uns, dass uns der Politiker etwas aufzuschwatzen versucht. Ich glaube, die wenigsten Leute haben heute das Gefühl, dass die Politik ihre Mitarbeit wünscht.

Nun sind Sie selbst von Berufs wegen „Politikerin“. Wie ist es dazu gekommen?

Ich weiß gar nicht, ob man das werden kann: Politikerin. Wo ist die Schwelle? Ist man als Schülersprecherin schon Politikerin? Oder erst wenn man ein Mandat im Stadtrat hat?

Zumindest ist man mit der Wahl in den Landtag hauptberufliche Politikerin.

Gut, das stimmt. Seit ich denken kann, habe ich das Bedürfnis, mich mit Dingen auseinander zu setzten, mich zu engagieren. Zwangsläufig stellt sich bei der Lebensplanung irgendwann die Frage, wie stark man das aktiviert. Und welche Mittel man wählt zur Umsetzung. Ich habe seit der Wende einiges ausprobiert, war Schülersprecherin, engagierte mich im Jugend- und im Umweltverein.

Sie sind dann zum Studium nach Russland gegangen.

Ja, und als ich wiederkam, liefen hier in Dresden gerade die großen Studentenproteste. Das war Impulsbewegung. Leute, die man vorher nie in der politischen Szene erlebt hatte, wurden kurzfristig politisiert. Das war mein Schlüsselerlebnis: Ich habe erlebt, wie Menschen sich einerseits motivieren lassen und wie schnell andererseits diese Motivation wieder verschwindet, wenn nur die Semesterferien dazwischenkommen. Als es darum ging, vertieft nachzufragen, was für eine Rolle die Hochschule in der Gesellschaft spielt, wie man sie anders organisieren könnte, da blieb ein aktives Häuflein übrig. Das war mein Aha-Erlebnis: Um Politik machen zu können, brauchst du eine längerfristig arbeitsfähige Struktur.

Es stellte sich also die Frage nach einer Partei.

Genau.

Sie kommen ursprünglich aus der Umweltbewegung. Warum sind Sie der PDS und nicht den Grünen beigetreten?

Erstens ist die gute Kommunalpolitik der PDS daran schuld. Mir haben nicht nur ihre Ziele imponiert, sondern auch die Art und Weise, wie sie Sachen angehen. Zum Beispiel hat die PDS in Dresden drei Bürgerbegehren zum Thema Verkehr begleitet – zwei waren erfolgreich. Zweitens war für mich die prinzipielle pazifistische Haltung der PDS ausschlaggebend. Wenn es jemand mit einer ökologischen Umstrukturierung der Gesellschaft ernst meint, geht das nur mit einem pazifistischen Grundkonsens. Und: Diese Umstrukturierung lässt sich nur bewerkstelligen, wenn man die jetzige Wirtschaftsstruktur kritisch hinterfragt. Das tun die Grünen aber nicht.

Welche Fragen möchten Sie diskutieren?

Etwa die Frage, ob eine Gesellschaft immer nur auf Wachstum basierend funktionieren kann. Wenn heute in den Nachrichten die Meldung kommt, die Wirtschaft wächst nur um ein Prozent, wird das als große Katastrophe betrachtet. Warum eigentlich? Woher kommt denn unser ständiges Wachstum? Entweder geht es zu Lasten andere Länder oder zu Lasten der Umwelt.

Und all diese Fragen stellen die Grünen nicht? Wie nehmen Sie die Grünen wahr?

Wahrscheinlich haben die Grünen ihre historische Mission schon erfüllt, wenn sie die endgültige Abschaltung der Atomkraftwerke erreichen. Das verdient Anerkennung. Fakt ist auch: Die Grünen sind mit ihren paar Prozent momentan in einer schwierigen Verhandlungsposition. Ich kann aber nicht gutheißen, dass sich die einstigen Pazifisten mit solcher Vehemenz jetzt für den Krieg entscheiden. Die Grünen haben bewirkt, dass sich der Umweltgedanke in der Breite der Gesellschaft durchgesetzt hat. Wenn sie allerdings jetzt ständig selbst bei wichtigen Fragen einknicken, schaden sie dem Umweltgedanken, den sie einst selbst so vorangetrieben haben.

Die ostdeutsche Gesellschaft schrumpft seit Jahren. Ist das nicht eine wunderbare Chance, ein weites Experimentierfeld?

Die Chance gab es vor zehn Jahren. Damals hätte man wagen sollen, eine neue Art der Bewirtschaftung auszuprobieren. Wenn man gesagt hätte, wir setzen auf kleinteilige Wirtschaft, auf eine Regionalisierung der Kreisläufe, dann wäre das vielleicht ein neuer Ansatz gewesen. Heute können wir nur noch hinterfragen: Was hat der Autobahnausbau von Dresden nach Görlitz wirtschaftlich für Impulse hervorgerufen? Die sächsische Regierung beantwortet solche Fragen nur mit Religion. Die kann man hinterfragen. Ändern kann man sie nicht.

Das Gegenteil von Globalisierung also?

Wenn es um den Jogurt geht, der erst um die halbe Welt gefahren wird, bis er in den Laden kommt: Ja.

Was bedeutet für Sie DDR?

Elf Jahre glückliche Kindheit, so wie für mich BRD zwölf Jahre interessante Jugend bedeuten. Ich empfinde es als superspannend, beide Systeme erlebt zu haben: Sicherlich sind bei mir etliche Wertvorstellungen hängen geblieben, die in der DDR vermittelt wurden.

Zum Beispiel?

Der Gedanke einer solidarischen Gemeinschaft. In einer Klasse war man eben verpflichtet, dem Schwächeren zu helfen. Die große Rolle, die Frieden spielte. Oder der sorgsame Umgang mit Ressourcen. Mir ist sicherlich klar, dass das in der DDR in hohem Maße ideologisiert war. Das ändert aber nichts am Ergebnis.

Es gibt demnach keine dunklen DDR-Flecken?

Oh doch, sehr viele sogar. Ich hätte in dem hierarchisch-patriarchalen System bestimmt enorme Probleme bekommen. War allerdings zu jung, um auf wirkliche Probleme zu stoßen.

Wie wollen Sie leben?

Wie in Ökotopia. Das ist ein von Ernst Callenbach in den 70er-Jahren geschriebener Roman, der gleichzeitig eine wunderbare Gesellschaftsutopie ist. Es gibt kaum Autos, sondern ein wunderbares öffentliches Nahverkehrssystem. An den Schulen gelten Bedingungen, die hierzulande höchstens an Alternativschulen denkbar sind. Es gibt ein ganz anderes Verhältnis zur Natur. Arbeit ist für die Menschen dort Selbstverwirklichung, kein Job also, sondern eine Beschäftigung, die das Individuum tut, weil es sie als sinnvoll erachtet. Die offizielle Arbeitszeit wurde auf vier Stunden begrenzt. Es gibt in Ökotopia viel mehr Freizeit, was die zwischenmenschliche Gesellschaft ganz stark in den Vordergrund holt.

Ist Ökotopia für Sie persönlich erreichbar?

Ich verzichte auf ein Auto. Das immerhin entspricht Ökotopia. Ich kaufe in der Verbrauchergemeinschaft die Produkte, die in „Ökotopia“ beschrieben werden. Was mir aber nicht so recht gelingen will, ist das Ziel der Entschleunigung der Zeit, das heißt, mehr Ruhe, mehr Besinnlichkeit zu realisieren. Dafür ist mein Leben zwischen Studium, Landtag und außerparlamentarischem Engagement zu hektisch.

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