: Gemeinsam über Gräben springen
■ Vertriebensein als einzige Gemeinsamkeit: „Beast on the Moon“ im Amerikahaus
Aram ist ein Mann mit unglücklichen Augen. Angekommen im Land der großen Freiheit, Amerika, geflohen aus seiner Heimat Armenien vor den mordenden Schergen der Türken aus der Zeit der „Säuberungen“ um 1915. In Amerika hofft er darauf, endlich „ein richtiges Leben zu haben“. Deshalb fotografiert er erst einmal alles, auch seine „Fotobraut“ Seta, die er anhand einer Fotografie aus Armenien freigekauft und per Fernheirat geehelicht hat. „Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie sich über den Mann erhebe“, ist nur eins der Bibelzitate, die sie sich zu Beginn anhören muss. Er kennt noch mehr davon.
Richard Kalinoskis Stück Beast on the Moon ist ein Mahnmal gegen Vertreibung und Völkermord. Auf der schmucklosen Bühne des Amerikahauses gerät es in der Regie von Didi Danquart zu einem anrührenden menschlichen kleinen Kammerspiel, das mit wenigen Requisiten auskommt und von wahrhaftiger Schauspielkunst lebt. Wir sehen die Begegnung zweier Menschen, die am Anfang tiefe Gräben trennen, durch religiöse Strenge, unterschiedliche Lebensansichten und einen beträchtlichen Altersunterschied. Und die doch verbunden sind in dem Schicksal, vertrieben zu werden und mit ansehen zu müssen, wie die eigene Familie ausgelöscht wird. Das hinterlässt bei beiden Spuren. Und doch kommt es zu einer Annäherung, die sich unerhört behutsam vollzieht und den Zuschauer keine Sekunde in Ruhe lässt.
Der aus Black Rider-Zeiten am Thalia Theater unvergessene Gerd Kunath führt als Erzähler in die Geschichte ein. Dominique Horwitz mit gewohnter Souveränität ist Aram Tomasian, strenggläubig und autoritär. Seiner erst 15-jährigen frisch angetrauten Ehefrau gestattet er nicht, eine Puppe zu halten. Nur mit Mühe lässt er sich vom Vollzug der Ehe abhalten, als sie sich allzu sehr wehrt. Für Seta ist es alles andere als leicht, das Leben in der neuen Heimat Milwaukee. Mit ihrer unorthodoxen Erziehung kollidiert sie immer wieder mit seinen Prinzipien. Weil sie ihrem Vater aus der Bibel vorgelesen hat und nicht umgekehrt. Und weil sie nicht still ist, wie es sich für eine „anständige“ Frau gehört. Als auch noch he-rauskommt, dass der Hunger sie unfruchtbar werden ließ, kehrt erst einmal Sprachlosigkeit bei dem ungleichen Paar ein.
Die erst 23-jährige Esther Zimmering ist in dieser Inszenierung die wahre Entdeckung dieses Abends, und das liegt nicht nur an ihrem verträumten Winona-Ryder-Mädchengesicht. Sie spielt stets wahrhaftig. Mit der Zeit emanzipiert sich Seta, hilft Obdachlosen, denen sie ein Bad und eine Mahlzeit verschafft – und widerspricht ihrem Ehemann. Mit ihrer Natürlichkeit bringt sie sogar ihren zunächst versteinerten Mann dazu, sich seiner Vergangenheit zu öffnen. Am Ende kann er ihr sogar erklären, warum er aus einer Fotografie seiner Familie alle Köpfe he-rausgeschnitten hat. Ein wunder-bar menschliches, unprätentiöses Stück über die Kraft der Liebe. Kein Pop, sondern einfach ergreifendes Theater. Annette Stiekele
weitere Vorstellungen: 8. bis 25.11. (außer 12.+19.11.), 20 Uhr, Kammerspiele
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen