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Der große Preis

Zu spät, um noch einen anständigen Beruf erlernen zu können: Am Wochenende findet in der Literaturwerkstatt der 9. Open-Mike-Wettbewerb statt. Ein ehemaliger Preisträger berichtet

von JOCHEN SCHMIDT

Nur einmal war ich ganz nah daran gewesen, etwas zu gewinnen. Da durfte ich mir im Kulturpark Plänterwald ein Los kaufen und mir berechtigte Hoffnungen auf einen Clown machen, den man mit einer kleinen Pumpe trommeln lassen konnte. Vor dem Wagen stolperte man über Millionen von bunten Plasteringen, die die Losrollen zusammenhielten und von enttäuschten Käufern weggeworfen wurden. Was auf meinem Los stand, konnte ich noch nicht lesen, ich hielt es dem dicken Mann im Wagen vor den Bauch, bis zur Nase kam ich nicht hoch. Er guckte kurz drauf und beachtete mich nicht weiter. Ich ging aber nicht weg. Irgendwann sagte er entnervt: „Mensch, ditt is ne Nie-te!“ Eine Niete! Ich freute mich auf meinen Preis. Aber der dicke Mann gab mir keinen. Wütend ging ich zu meinen Eltern und beschwerte mich: „Ich hab ’ne Niete! Und der Mann will sie mir nicht geben!“ Kurz darauf hatte ich wieder ein neues Wort gelernt.

Auch später habe ich nie etwas gewonnen. Beim Kinder- und Jugendliteraturwettbewerb Pankow war ich jahrelang einer der treuesten Teilnehmer, bis ich nicht mehr durfte, weil ich zu alt geworden war. Ich bekam immer eine Einladung zur Preisverleihung ins Rathaus, aber nie einen Preis. Den bekamen welche, die Gedichte mit kleinen Buchstaben schrieben, wie: „steinerne schwingen / mein kopf / ohne dich / schmetterlingswinter“.

Als ich dann aus Verbitterung Gedichte von meiner Freundin einschickte, bekam sie sofort eine lobende Erwähnung, und ich begann an mir zu zweifeln. Weil ich endlich unbedingt auch etwas gewinnen wollte, habe ich dann einmal einen Tag lang auf www.gewinnspiele.de bei ungefähr 50 Verlosungen meine Adresse angegeben. Ich habe sogar recherchieren müssen, um Fragen zu beantworten, wie: Welcher Drucker von HP hat 300 dpi auf 600 cpü? Aber ich habe nichts bekommen dafür, nicht mal Werbepost.

Nach all den Jahren der Demütigung sollte ich jetzt bei einem Literaturpreis um die Wette lesen. Der Raum war voll mit alten Hasen, die sich alle zu kennen schienen. Zunächst hörte ich mir sechzehn andere Kandidaten an. Sie studierten alle genau das Gleiche wie ich. Die Jury bestand aus drei richtigen Schriftstellern und zuckte nicht mit der Wimper. Ein Schweizer las einen Text vor, in dem er gegen die Schwäne agitierte, weil die die Haubentaucher verdrängen. Die Schweiz, immer noch ein Brutkasten der Poesie. Weil man dort immer über die Berge muss, um nicht so allein zu sein, schreibt man sich von Kindesbeinen an lange Briefe, die dann von der Post verbummelt werden. Das entwickelt genau die beiden wichtigsten Schriftstellereigenschaften: Autismus und Geduld. Das heißt, gibt es überhaupt ungeduldige Autisten? Die immer innerlich von einem Bein aufs andere hüpfen und sich Sachen anhören müssen wie: „Wenn er doch nur mal einen Wunsch hätte! Aber er interessiert sich für gar nichts.“

Neben mir saß eine Frau aus Österreich mit rosa Strümpfen und vergilbten weißen Lackschuhen. Auch eine Autorin? Oder eine Kritikerin? Ich sagte ihr vorsichtshalber, dass ich Österreich gut fände, und das war nicht gelogen: Es ist ja tatsächlich besonders gut dazu geeignet, durchzufahren, wenn man nach Italien will. Sie antwortete: „Na! I bin aus Bayern!“ Ich beschloss, mich lieber still zu verhalten, und belauschte in der Pause zwei Lektoren, die hinter mir nach einem Tintenfischbällchen anstanden. Sie erzählten sich ihre Leidensgeschichten: „Der X hat sich jetzt selbst in die Psychiatrie eingeliefert. Ob er da endlich seinen neuen Roman schreibt?“ „Ich weiß nicht, ich besuch die Y auch jeden Freitag in der Anstalt und bin danach immer selbst reif für die Klapse. Ich warte jetzt schon seit sechs Monaten auf die Korrekturfahnen.“ Mein Gott, ich konnte ja noch schnell einen richtigen Beruf lernen. Aber für heute war es dafür schon zu spät, mein Name wurde aufgerufen, und ich musste lesen.

In der Stunde bis zur Preisverleihung bekam ich so langsam eine Vorstellung von der Bedeutung der Sache. Erst kam der Mann aus der Sesamstraße zu mir und flüsterte, ohne mich anzusehen: „Pssst!“ „Hä?“ „Hier!“ „Was soll das sein?“ „Meine Karte. Ich bin Agent.“ „Ihre Karte! Ich krieg Ihre Karte!!!“ „Pssst!! Genau . . .“ Mehrere gepflegte Menschen meinten: „Das hat mir gut gefallen, haben Sie noch mehr geschrieben?“ „Ja, aber wer sind Sie denn?“ „Ich bin X vom Y-Verlag.“ „Ich glaube, Sie haben mir da erst neulich was zurückgeschickt.“ „Was? Ich?“ „Oder, nein, Y-Verlag, das könnte sogar noch dort liegen, stimmt, Sie hätten es mir zurückgeschickt, wenn ich Ihnen 150 Mark in druckfrischen und fortlaufend nummerierten Briefmarken mit Walter Ulbricht drauf geschickt hätte.“ „Also, das tut mir furchtbar Leid, ich war eine Weile im Urlaub, und da sind tatsächlich ein paar Sachen nicht von mir bearbeitet worden, ich hatte gleich meine Vorbehalte gegen diese Praktikantin, über meinen Schreibtisch ist das bestimmt nicht gegangen, das kann ich mir nicht vorstellen, ich seh gleich mal in unserer Opferdatei nach.“ Der Text hatte ihnen tatsächlich gefallen, und jetzt wollten sie genau das Gleiche von mir, nur zehnmal länger.

Ich benahm mich sehr unprofessionell und schrieb meine Telefonnummer auf Schnipsel, die ich von weißen Stellen auf meinem Manuskript abriss, ich hatte keine Karte. Als eine Frau vom Radio mich fragte: „Haben Sie diesen Text hier eingesandt, weil diese Art, zu schreiben, im Moment so stark im Kommen ist?“, antwortete ich ungefähr so eloquent wie die Klitschko-Brüder: „Chab ich gedacht: einfachste Lösung, schreibst beste Text, alle lachen, jeder versteht.“

Als dann am späten Nachmittag die Preisträger verkündet wurden, fiel auch mein Name. Wenn ich heute daran denke, muss ich immer heulen. Damals war ich zu schwach dazu, weil meine letzten Geburtstagsgäste erst morgens um fünf gegangen waren und ich im Stehen einschlief. Ich bekam gerade noch mit, dass ich mit meinem heiter-besinnlichen Text zum ersten Mal etwas gewonnen hatte, wenn auch keine Niete. Meine Stalingrad-Sonette würde natürlich auch in Zukunft keiner drucken wollen. Aber so war dieses Geschäft eben.

Der Open-Mike findet Sa. und So. ab 12 Uhr in der Literaturwerkstatt, Majakowskiring 46/48, Pankow statt

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