Chinas lächelndes Rätsel

Zwei Meinungen gibt es über Hu Jintao: die einen halten ihn für blass und schwach ...... die anderen für blass und raffiniert. Die deutsche Industrie ist einfach entzückt

von SVEN HANSEN

Als der hohe Gast aus dem Reich der Mitte in Berlin zu den Spitzen deutscher Konzerne über das Asiengeschäft spricht, liegt das Manuskript mit den chinesischen Schrifzeichen vor ihm auf dem Rednerpult. Doch Hu Jintao schaut nicht auf das Blatt. Vielmehr spricht er die ersten Minuten auswendig mit kräftiger Stimme, während er ins Publikum blickt. Derweil verhaspelt sich sein Dolmetscher beim Ablesen der deutschen Übersetzung. Hu ist seit 1992 in Chinas höchstem Führungszirkel, dem Ständigen Ausschuss des KP-Politbüros, und seit 1998 Vizepräsident der Volksrepublik. Doch im In- und Ausland ist nur sehr wenig über ihn bekannt. Dafür betont fast jeder Artikel über ihn sein „fotografisches Gedächtnis“ und seine Vorliebe für Zahlen und Statistiken.

Die kommen auch an diesem Abend im Haus der Deutschen Wirtschaft gut an. Denn Hu präsentiert die allerneuesten Zahlen vom chinesischen Zollamt. Demnach stieg das Volumen des deutsch-chinesischen Handels von Januar bis Oktober 2001 auf über 19 Milliarden Dollar und damit um fast 20 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Noch erfreulicher für Hus Zuhörer ist der Anstieg der deutschen Exporte. Die Zahlen liest er von einem kleinen handbeschriebenen Zettel ab, der ihm offenbar erst kurz vor der Veranstaltung und damit unmittelbar nach seiner Ankunft in Deutschland zugesteckt wurde.

Hatte die Bundesrepublik gegenüber China traditionell ein großes Handelsbilanzdefizit, übertrafen laut Hu jetzt die deutschen Ausfuhren nach China die Importe von dort. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres stiegen die deutschen Lieferungen nach China um satte 27 Prozent. Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder erst am vergangenen Wochenende mit einer großen Wirtschaftsdelegation aus China zurückkehrte, wo milliardenschwere Verträge abgeschlossen worden waren, scheint ein Besuch des chinesischen Vizepräsidenten in Deutschland wenig sinnvoll zu sein – aber nur auf den ersten Blick.

Denn Hus Europareise, die ihn nach Russland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und jetzt zum Abschluss auch nach Deutschland bringt, ist sein erster Besuch im westlichen Ausland überhaupt. Und mit 58 Jahren ist er nicht nur der Jüngste im Politibüro der chinesischen Kommunisten, sondern gilt auch als ihr künftiger Führer und damit als baldiger Machthaber des bevölkerungsreichsten Landes. So wie die Reise Hu ermöglicht, internationales Profil gegenüber innerparteilichen Rivalen zu gewinnen, können sich seine ausländischen Gesprächspartner erstmals auch ein Bild von Chinas Kronprinz machen.

Vor den deutschen Wirtschaftsbossen hat Hu inzwischen seine modische Brille abgelegt und trägt, nun gelegentlich ablesend, Schlagworte der offiziellen chinesischen Wirtschaftspolitik vor: sieben Prozent Wachstum, Großprojekte, Chancen, Technologie-Transfer, WTO-Beitritt, Schutz geistigen Eigentums, Reformen, weitere Öffnung, Stabilität. Offen wirbt der Ingenieur für Wasserbau, der 1965 kurz vor der Kulturrevolution sein Studium an der Pekinger Elite-Universität Qinghua abschloss, um weitere deutsche Investitionen. Gerade sei Deutschland durch die während der Kanzlerreise abgeschlossenen Verträge Chinas größter europäischer Investor geworden. Und Peking, verspricht er, werde sich an die Verpflichtungen des WTO-Beitritts halten. Hu ist freundlich, Hu ist redegewandt, Hu ist aalglatt.

„Who is Hu?“, fragten schon britische Medien bei seinem Besuch in ihrem Land, ohne dies wirklich beantworten zu können. Ein Manager will wissen, wo Hu Chinas größte Schwierigkeiten nach dem WTO-Beitritt sieht. Seine Antwort: „Der WTO-Beitritt bringt China sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Nach dem WTO-Beitritt werden wir noch intensiver am wirtschaftlichen Austausch beteiligt.“ Welche Branchen es künftig schwer haben werden, sagt Hu, darüber habe jeder Experte eine eigene Meinung. Er selbst hat offenbar keine. Oder er verschweigt sie.

Interviews mit Journalisten hat er erst gar nicht im Programm. Hu vertritt ganz und gar die Parteilinie, sich selbst gibt er nicht zu erkennen – den ganzen Abend, die letzten neun Jahre nicht. Denn 1992 soll er schon vom Gerontokraten Deng Xiaoping persönlich als Nachfolger des heutigen Staats- und Parteichefs Jiang Zemin auserkoren worden sein. „Ich meine, dieser Hu ist ganz und gar nicht verkehrt“, sagte Deng und hievte Hu direkt in den Ständigen Ausschuss des Politbüros. Da war der erst 49 Jahre alt und mit Abstand der Jüngste. Der war Hu eigentlich schon immer.

Mit 39 wurde er jüngstes Mitglied im Zentralkomitee, mit 42 wurde er in Guizhou Chinas jüngster Provinzgouverneur. Wie viele seiner Generation war er während der Kulturrevolution aufs Land geschickt worden. In der armen Provinz Gansu stieg er dann auf, später wurde er Chef des nationalen Jugendverbands in Peking.

„In China gibt es über ihn zwei Meinungen“, sagt Kay Möller, China-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Die einen sagen, dass er bisher nicht in Erscheinung trat, ist eine besonders raffinierte Strategie im Kampf um die Führungsspitze. Die anderen sagen, dass er noch schwächer ist als der blasse Jiang Zemin.“ Tatsache ist, dass es im modernen China bereits mehrere auserkorene Nachfolger gab, die – wie Maos vorgesehene Erben Liu Shaoqi oder Lin Biao – erst gar nicht die Führung übernahmen oder sich – wie Hua Guofeng, Hu Yaobang oder Zhao Ziyang – nicht lange an der Spitze halten konnten.

Seit Hu 1998 stellvertretender Staatspräsident und 1999 stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Mlitärkommission wurde, ist ihm die Favoritenrolle bei der Nachfolge sicher. Fehler darf er sich allerdings nicht leisten. Hilfreich für ihn ist, dass er die Kaderschule und das Sekretariat der Partei unter sich hat und im Parteiapparat die Vergabe der Posten kontrolliert.

Aufgefallen ist Hu in all den Jahren nur zweimal. Zuerst 1989. Da ließ er im März als Parteichef von Tibet antichinesische Proteste zusammenschießen, wobei nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 200 Tibeter starben. Für 14 Monate verhängte er das Kriegsrecht über Tibet. Kurz nach der blutigen Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung in Peking im Juni sandte Hu ein Glückwunschtelegramm an die Parteiführung in Peking, die seinem Beispiel gefolgt war.

Jonathan Mirsky, ein britischer Veteran unter den China-Berichterstattern mit 40-jähriger Landeserfahrung, charakterisierte Hu kürzlich mit dem deutschen Begriff „Gauleiter“. Gegenüber Mirsky, dessen Beruf als Journalist ihm nicht bewusst war, beklagte Hu sich über Tibets Höhe, das dortige Klima und die tibetische Kultur. Seine Familie brachte er erst gar nicht dorthin. Zwar hätten auch andere Parteichefs in Tibet Poteste niedergeschlagen. Doch niemand sei dort so ein Hardliner gewesen wie Hu, erinnert sich Klemens Ludwig von der Tibet Initiative Deutschland. „Nach dem Tod des 10. Panchen Lama Anfang 1989 wurden sogar kleine Errungenschaften wie Kurse in Tibetisch an der Universität auf Anordnung Hus wieder zurückgenommen.“

Seinen zweiten großen Auftritt hatte Hu 1999. Am 8. Mai trat er nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die Nato im Fernsehen auf und versprach den gegen die USA demonstrierenden Studenten die Unterstützung der Partei, sofern sie sich an die Gesetze hielten. Das Risiko einzugehen, knapp einen Monat vor dem zehnten Jahrestag des Tiananmen-Massakers öffentliche Demonstrationen zu billigen, erwies sich als geschickter Schachzug. Denn damit setzte sich die Regierung an die Spitze der nationalistischen Proteste, konnte sie so kontrollieren und dann beenden. Zugleich entsprach dies einem der wenigen bemerkenswerten Sätze Hus in seiner offiziellen Biografie: „Ein guter Führer sollte zur Demokratie ermuntern und auch fähig sein, in kritischen Momenten resolute Maßnahmen zu ergreifen.“ Hus Vorgehen 1989 und 1999 lässt sich so interpretieren, dass (nationalistische) Meinungsäußerungen dort möglich sein können, wo die Macht der Partei nicht in Gefahr ist. Hart durchgegriffen werde aber, wenn die Partei bedroht ist.

Bei Hus Auftritt vor den deutschen Asienunternehmern ist die Partei allerdings kein Thema. Hu selbst macht einen selbstbewussten Eindruck, als er zum Schluss seiner Rede die Weltmarktchancen der chinesischen Wirtschaft nach dem WTO-Beitritt anspricht: „Bei arbeitsintensiven Produkten hat China eine starke Konkurrenzfähigkeit. Auch bei einigen Technologiebereichen, wie etwa Trägerraketen. Aber hier gestatten uns einige die Konkurrenz nicht.“ Das deutsche Publikum lacht über den versteckten Seitenhieb auf die Amerikaner.

Nach der Veranstaltung ist Jürgen Heraeus, China-Sprecher der deutschen Wirtschaft und Tischnachbar Hus während des Abendessens, voll des Lobes über ihn: „Er ist aufgeschlossen und spricht die Probleme offen an – ein großer Unterschied zu Chinas Führern vor zehn Jahren“, sagt Heraeus der taz. „Wenn er Chinas neuer Führer wird, bin ich optimistisch.“ Wolfgang Niedermark, Geschäftsführer des Hamburger Wirtschaftsverbands Ostasiatischer Verein, ist ebenfalls zufrieden: weil Hu gerade kein eigenes Profil gezeigt hat. „Er ist konform zur jetzigen Führungsgeneration, und mit der können wir ja sehr gut. Wir wünschen keinen großen Wechsel. Hu bedeutet Kontinuität und geordneten Übergang. Das schätzt die Wirtschaft immer sehr. Wenn er hier groß auf Reformer gemacht hätte, würde das eher zu Verwunderung führen.“