Proleten ohne Pettycoat

■ Bremer Historikerin Renate Meyer-Braun schildert Gröpelinger „Alltag im Wirtschaftswunder“. Zehn Bier für zwölf Mark oder: „Ein Wochenende bei Tura ohne Schägerei, das war doch nichts“

Nierentische, Knutschen im VW-Käfer und eine Urlaubssonne, die gemeinsam mit der Roten Flotte bei Capri im Meer versinkt. In den 50er Jahren feierte sich die alte Bundesrepublik selbst. Als „Wirtschaftswunder“ sollte jene Epoche in die bundesdeutsche Geschichte eingehen.

Doch in den Arbeitervierteln der alten BRD kam nur ein Teil des Wunders aus Petticoat und Kühlschrank an. Wie zum Beispiel in Bremen-Gröpelingen. Um die Jahrhundertwende war mit dem Bau der Riesenwerft A.G. Weser in „Gröpeln“ ein veritables Arbeiterquartier entstanden. Der dortige Alltag in den 50ern war jedoch weniger von schnell wachsendem Reichtum als vielmehr durch Mangel, Improvisation und oft ein-fachste Verhältnisse geprägt.

Dieses durchschnittliche Leben in den Gröpelinger Werftarbeiterfamilien schildert der jüngst erschienene Band „Alltag im Wirtschaftswunder“, den Renate Meyer-Braun morgen Abend vorstellen wird. Die Autorin ist Professorin für Sozial- und Zeitgeschichte an der Hochschule Bremen.

Meyer-Braun fördert Erstaunliches zu Tage. Denn als Folge der harten Bedingungen kam es in Gröpelingen beispielsweise zu ungewohnten Rollenverteilungen. Die Leitkultur sah vor, dass Mädchen heiraten und zu Hause zu bleiben hatten. „Use Akschen“ aber (Plattdeutsch für „unsere Aktiengesellschaft“) litt auf dem Hochpunkt des Wirtschaftswunders 1959 unter der Vollbeschäftigung. Der Arbeitsmarkt etwa an (männlichen) Schweißern war leer gefegt. Also warb die Werft per Annonce um Schweißerinnen. Eine von denen, die sich meldeten und genommen wurden, war Hilde Steuermann. Sie, die in Ostpreußen eine kaufmännische Ausbildung absolviert hatte, lockte die gut bezahlte Halbtagsstelle. Die Schichtarbeit zwischen sieben und zwölf Uhr ermöglichte es ihr, sich trotzdem um ihre beiden Kinder zu kümmern – auch wenn ihr Mann „anfangs ganz entsetzt“ war.

Die Historikerin Meyer-Braun hat für ihr Buch Werftarbeiterfamilien aus Gröpelingen zu ihrem Alltag in den „goldenen Fünfzigern“ befragt. Dabei geht es nicht nur um Schweißerinnen und Kranfahrerinnen, die „ihren Mann standen“. Arbeiterfamilien und Jugendliche lebten damals entgegen der restaurativen Moral der Adenauer-Ära vergleichweise freizügig. Und Väter, so erinnern sich Töchter, erwiesen sich gegen das vorherrschende Bild als oft erstaunlich liebenswert und intensiv.

„Alltag im Wirtschaftswunder“ zeigt zugleich Besonderheiten Bremens gegenüber dem umgebenden Land: die zentrale Bedeutung der Schrebergärten zum Beispiel. Nicht wenige wohnten komplett „auf Parzelle“ – in den nach dem legendären Bürgermeister benannten Kaisen-Häusern. Für die mit eigenen und oft kleinen Wohnungen war die Parzelle jedoch nicht nur ein Ort der Frischluftzufuhr, sondern entlastete mit dem selbst gezogenen Gemüse auch die Haushaltskasse.

Und nach der Arbeit? Beliebt bei Familien war zum Beispiel das Picknick auf der linken, also Pusdorfer Weserseite gegenüber der A.G. Weser. Die Junggesellen hingegen schätzten die handfesteren Vergnügungen im Vereinsheim des großen Gröpelinger Sportvereins, als zehn Bier noch zwölf Mark kosteten. „Ein Wochenende bei TURA ohne Schlägerei, das war doch nichts.“ Thomas Gebel

Morgen 18 Uhr, im „Kultur vor Ort“ in der Liegnitzstr. 63