Forscher treffen Monster

■ Seemannsgarn an der Privatuni: Eine Vorlesung der IUB widmet sich Moby Dick, dem Weißen Hai, und Riesenkraken, um Linien zwischen Fakten und Mythologie zu ziehen

Sie sind der Schrecken der Tiefsee, haben Saugnäpfe groß wie Autoreifen, versenken mal hier eine Barke, überfallen mal dort eine Meerjungfrau. Schließlich schlagen ihnen Matrosen die Arme mit Hackebeilen ab – oder sie werden von einem Wal verknuspert: Riesenkraken, äußerst zweifelhafte Gesellen, über die nicht nur Jules Verne gerne phantasierte. Auch die Boulevardpresse stürzt sich mit Freuden auf alle Mega-Polypen und Nessies der Welt – besonders, wenn sie zu Ferienzeiten aus dem Sommerloch auftauchen.

„Über zehn Meter müssen sie schon groß sein – und es gibt sie wirklich“, behauptet auch der Bremer Literaturprofessor Thomas Rommel, der im kommenden Frühjahr zusammen mit der Mikrobiologin Antje Boetius eine Vorlesung zum Thema „Monsters of the Sea“ – Meeresmonster – starten will.

Riesenpolypen, weiße Haie, Seeungeheuer – was ist da dran und wie gehen wir damit um? Das sind die Fragen, die sich Natur- und Geisteswissenschaftler gemeinsam an der privaten International University Bremen (IUB) stellen wollen.

Einzigartig in Deutschland

Das transdisziplinäre Projekt dürfte in Deutschland einzigartig sein: Nicht nur wegen des Themas, sondern vor allem aufgrund des pädagogischen Ansatzes. „Monsters of the Sea“ geht nämlich weit über bereits praktizierte interdisziplinäre Lehrmodelle hinaus: „Beim Studium Generale reden verschiedene Experten zu verschiedenen Themen“, erklärt Rommel. „Wir wollen noch eins draufsetzen und gemeinsam in der Vorlesung Rede und Antwort zum Umgang mit Unbekanntem stehen.“

Zunächst eine logistische Herausforderung: Boetius, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polarforschung, musste einen gemeinsamen Termin mit dem IUB-Professor und Experten für Literatur des 18. Jahrhunderts finden.

Dann das Thema. Wissenschaft meets Quasi-Trash, die Logik das Faszinierende, oft Unwissenschaftliche. Rommel findet, Meeres-monster eignen sich besonders gut für das Experiment: „Natürlich werden Naturwissenschaftler von Abenteuerromanen beeinflusst“, sagt der Grenzgänger unter den Forschern. „Gleichzeitig waren viele Erzählungen von Jules Verne durchaus dem technischen Stand ihrer Zeit voraus. Wir wollen die Linie ziehen zwischen Fakten und Mythologie.“

Polypen mit Papageienschnabel

So wird die Naturwissenschaftlerin Boetius die gallertartigen, bis zu 50 Meter großen Riesenpolypen mit ihrem papageienartigen Schnabel und ihrer Raspelzunge beschreiben, während Literaturfachmann Rommel eher „diese bizarre Entwicklung der Natur“ fasziniert, „die uns in unseren Albträumen erschreckt“. Zusätzlich zur Vorlesung wird ein Tutorium angeboten. Am Ende der Veranstaltung müssen alle Studenten (der Andrang ist riesig) Seminararbeiten schreiben. „Thema könnte eine vergleichende Interpretation von Vernes '20.000 Meilen unter dem Meer' und dem Roman 'The Beast' von Peter Benchley sein“, meint Rommel.

Vor Vorlesungsbeginn im Februar müssen die Studis „Fachliteratur“ gelesen haben: Homer, die Bibel-Episode von Jonas samt Wal sowie selbstverständlich Moby Dick stehen auf der Literaturliste des IUB-Seminars. Oder die „Naturgeschichte“ von Plinius dem Älteren.

Hasserfüllt durchs Bullauge

79 vor Christus berichtet Plinius, einer der ersten Naturwissenschaftler der Welt, von Tintenfischen groß wie Schiffen, ohne sie je gesehen zu haben. Bei Jules Verne greift Ende des 19. Jahrhunderts ein Riesenpolyp das U-Boot „Nautilus“ an.

„Das Spannende ist doch, wie er vermenschlicht wird“, meint Rommel. „Verne schildert, wie die Krake mit ,hasserfüllten Augen' durchs Bullauge starrt, als ihr die Tentakeln abgehackt werden.“ Dagegen sei für die Naturwissenschaften etwas völlig anderes relevant. Rommel: „Wieviel Muskelkraft muss ein Tentakel haben, um so ein Boot hochzuheben?“

Kai Schöneberg