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Stiefmuttersprache

Ein bisschen Einsamkeit gehört einfach dazu: Heute Abend liest Rajvinder Singh Gedichte aus seinem neuen Lyrikband „Vögel und andere Fische des Windmeers“

Vögel, die zu Fischen mutieren, schmücken den sechsten Gedichtband von Rajvinder Singh. Das M.-C.-Escher-Motiv hat der Verleger ausgesucht, wirkt es doch wie ein Spiegelbild des Titels „Vögel und andere Fische des Windmeers“. Aber durch die Lyrik des aus Indien stammenden Dichters geistern keinerlei Fabelwesen, sie kreist um nur allzu Menschliches und immer wieder um den Dichter selbst.

In knappen Worten verdichtet er seine Persönlichkeit: Mal bezeichnet er sich als Nest, das hier und da ist, mal als dialogsüchtigen „Wortpfeil“ zwischen Mensch und Mensch. Worte sind dem Mittvierziger Werkzeug und Spielzeug zugleich. Immer wieder klopft er die Worte seiner deutschen „Stiefmuttersprache“ auf darin enthaltene Verwandlungsmöglichkeiten ab. So entstehen Sprachbilder wie zum Beispiel „fließende Wortungen“ oder „Avant-gar-D(e)isten. Ein Spaziergang auf Barcelonas Ramblas? Da liegt das Verb „ramblieren“ für ihn auf der Hand. Am intensivsten wirken dabei die knappsten Wortschöpfungen.

Davon gibt es einige in dem vorliegenden Band. Ab und zu aber wird der Dichter von der Flut der Einfälle offenbar überwältigt und man kann ihm kaum noch folgen. So listet er in „Bin ich denn kein Galego?“ gleich seitenweise galizische Eigennamen auf, die selbst einen Galizier in ihrem Übermaß ermüden würden.

Die Themen Heimat und Fremdsein erwartet der Leser geradezu von einem deutschen Dichter, der im indischen Pandjab geboren ist. Rajvinder Singh greift sie auch gern hin und wieder auf und gibt Antwort auf die häufig gestellte Frage, wo sein Land sei. Nämlich nirgendwo und überall, dort, wo er sich gerade befindet. Zwar wohnt er schon seit zwanzig Jahren in Berlin, aber seine Gedichte zeugen von dem Wunsch, ein Nomade zwischen den Kulturen zu sein: „Ich mag mein Leben als eine Insel eine schwimmende unverwurzelt“, heißt es in einem Gedicht mit dem Titel „Fremdwahrnehmung“. Der Banyanbaum im trüben Dorfteich aus demselben Gedicht ist die einzige indische Metapher im ganzen Buch.

Um die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten dreht sich auch der Inhalt mancher Gedichte selbst. Da vertraut der Poet darauf, dass von ihm Taten aus Worten und Gedanken bleiben. Aber Rajvinder Singh schickt seine Gedichte auch „wie Papierschiffe“ an Menschen und wartet vergeblich auf Rückmeldung, ohne die Hoffnung aufzugeben, dass seine Botschaften auf Gleichgesinnte treffen. Das liegt in der Natur der Sache. Und ein bisschen Einsamkeit, ein bisschen Unverstandensein gehören für den wahren Poeten doch dazu, schließlich ist das der Stoff, aus dem Gedichte entstehen. ANNE WINTER

Lesung mit Musik von Nandkishore Muley (Santoor) und Pantomime von Irshad Panjatan heute, 20 Uhr in der Werkstatt der Kulturen, Wissmannstr. 31–42, Neukölln

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