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Hohlwege zur Kunst

Mumifizieren: Die britische Bildhauerin Rachel Whiteread hat für ihre Ausstellung in der Deutschen Guggenheim Berlin die ganze Kellertreppe ihres Atelierhauses und zwei Zimmer in Gips abgegossen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Was bringt das Leben anderes hervor als eine Kette von Ruinen? So erscheint es in einem Foto-Essay, den die Bildhauerin Rachel Whiteread ihrem Katalog „Transient Spaces“ (vergängliche Räume) mitgegeben hat. Sie sammelt Bilder von Skeletten aus Stein und Beton, manche Jahrhunderte alt, andere im Rohbau verlassen. Dazwischen stehen Ansichten von großen Einschnitten in die Landschaft: Talsperren, Steinbrüche – von Menschenhand geschaffene Kanäle. Einmal sieht man den Rauch eines Vulkanausbruchs hinter einem Ausflugsrestaurant. Die Abbildungen sind winzig, was sie zeigen, ist monumental.

Eigentlich handeln Rachel Whitereads Skulpturen von großen Gefühlen. Sie rücken dem Menschen nah, dringen in intime Räume vor. Aber die Form, in der sie dies tun, ist streng und verschlossen – als gelte es, ein Geheimnis auf immer zu bewahren. Sie schweigen oder, wie die Bildhauerin selbst einmal schrieb, „mumifizieren die Stille“.

1941 fielen Bomben, die aus Deutschland kamen, auf London. Zu den zerstörten Häusern gehörte eine Synagoge in dem Stadtteil Tower Hamlets. 2001 bringt die Bildhauerin eine Skulptur von London nach Berlin, die in ebendiesem Haus entstand und nun die Ausstellungshalle im Gebäude der Deutschen Bank verriegelt wie ein hermetischer Klotz. Seitlich kann man sich gerade noch durch einen schmalen Gang an „Untitled (Appartement)“ vorbeiquetschen. Tiefe Einschnitte schieben sich in den Block dort, wo Wände das Appartement in zellengroße Räume unterteilten. Man fühlt sich beklommen wie bei einer Bunkerbegehung. Die Nähte zwischen den Gussblöcken erinnern an die Anonymität sozialer Wohnungsbauten aus vorgefertigten Teilen. Wie soll sich Leben da nicht wundstoßen zwischen harten Begrenzungen?

Dies ist eine pathetische Lesart von Whitereads minimalistischer Skulptur, doch ihre Werke lassen das zu. Letztes Jahr erwarb sie das leer stehende Haus in Tower Hamlets, um es zu Wohnung und Atelier umzubauen. Nach dem Krieg war es in den Fünfzigerjahren in notdürftigem Funktionalismus wieder aufgebaut worden; diente als Synagoge zuerst, später als Lagerhaus. Den Entschluss, den vorgefundenen Zustand in einem Abguss aus Gips zu dokumentieren, fasste Whiteread, als das Guggenheim-Museum sie um ein Projekt bat. Die Skulpturen werden nach Berlin auch in den Guggenheim-Museen Bilbao und New York gezeigt. Dort den Architekturen von Frank Lloyd Wright und Frank Gehry eine eigene Interpretation des Raumes entgegenzuhalten, sah die Künstlerin als Herausforderung.

Für „Untitled (Basement)“ hat sie den Hohlraum über der Kellertreppe ihres neuen Hauses abgeformt. Im Negativ zeigen die Stufen nach unten, eine Fledermaus könnte dort kopfunter hängen. Am Treppenabsatz dreht sich die Skulptur plötzlich um mehr als eine Achse und kippt seitwärts. Man müsste auf dem Boden liegen, um die Stufen mit den Füßen zu berühren. Natürlich tut man dies nicht, aber in der Vorstellung erteilen Whitereads Skulpturen dem Betrachter Anleitungen für seine eigenen Bewegungen. Wie einer Choreografin geht es ihr um die Bewusstwerdung des eigenen physischen Standortes.

„Untitled (Basement)“ verweist zudem in den Untergrund und damit in die archäologische Dimension ihrer Kunst. Ihre Gipshäute legen sich den Innenräumen an wie Versteinerungen. Ihre Methode, die Hohlräume und Abstände zwischen den Dingen zu bandagieren und mit Gips auszugießen, vergleicht die Kunsthistorikerin Beatriz Colomina mit dem Abnehmen von Totenmasken und der Mumifizierung von Leichen. Sie beschreibt den Arbeitsprozess fast wie einen archaischen Akt der Versorgung von Narben, die die Geschichte hinterlassen hat.

Whiteread ist eine Generation jünger als Bruce Nauman, Richard Serra und Carl André. Verglichen wird sie mit ihnen in der Analyse des Raumes, dem Maßnehmen der Skulptur an der Architektur, dem Minimalismus der Eingriffe, der sachlichen Erscheinung. Dennoch bieten ihre Skulpturen eine größere Projektionsfläche für das Unheimliche einerseits, einen Spiegel der Sozialgeschichte andererseits.

Sie ist mehrfach den Weg von innen nach außen gegangen. Die Erkundung von Hohlräumen begann Ende der Achtzigerjahre in Schränken, Badewannen, unter Stühlen. Bekannt wurde sie 1993 mit „House“: Dieser Betonabguss der Innenräume eines spätviktorianischen Arbeiterhauses hielt wie ein vor Schreck erstarrtes Gespenst mitten in der Abrisswüste noch einige Monate stand, bevor es ebenfalls zerstört wurde. Dieses Jahr kehrte Whiteread in den Londoner Stadtraum zurück: Auf dem Trafalgar Square erhielt ein Sockel der repräsentativen Platzarchitektur eine transparente Verdoppelung, wie eine Spiegelung in der Luft. Geschichte wird zur Fata Morgana, Produkt der Imagination. So leicht kann Whiteread sein.

Bis 13. 1. 2002, Deutsche Guggenheim Berlin, Unter den Linden 13–15. Katalog: 59 DM

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