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200.000 Tote unter Minsker Asphalt

Weißrusslands Regierung lässt nahe der Hauptstadt eine Autobahn ausbauen – auf den Leichen von Stalin-Opfern

MINSK taz ■ Die Bulldozer rollten am Abend nach Kuropaty, einem Waldstück am Stadtausgang von Minsk. Gnadenlos zermalmten sie hunderte von dort aufgestellten Holzkreuzen. Den Rest besorgten mitgereiste Hundertschaften von Miliz und Kräften des weißrussischen Innenministeriums. Junge Menschen, die dort in Bretterbuden ausharrten, um den geplanten Ausbau der Minsker Ringautobahn zu verhindern, wurden von den Uniformierten krankenhausreif geprügelt. Die Bilanz: 30 Festnahmen. Einige sitzen noch im Knast und warten auf ihren Prozess, der für Ende des Monats angesetzt ist.

Doch bei den jüngsten Ereignissen geht es um weit mehr als die unter Staatspräsident Alexander Lukaschenko gängige Spezialbehandlung von Regimekritikern. Denn der Name Kuropaty steht für eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren weißrussischen Geschichte. Schätzungsweise rund 200.000 Menschen, größtenteils Weißrussen, aber auch Polen und Litauer, sollen hier in Massengräbern verscharrt sein – Opfer stalinistischer Repressionen der Jahre 1937 bis 1941. Jahrzehntelang fand dieses Thema in sowjetischen Schulbüchern nicht statt. Wo der Begriff Kuropaty auftauchte, hatten dort, so die offizielle Lesart, deutsche Faschisten Juden ermordet.

In den 60er-Jahren rückten erstmals Bautrupps an, um das Terrain für den Bau der Ringstraße zu planieren. Die heute 65-jährige Lydia Rachmanowa erinnert sich: „Ich ging dort vorbei, das Erdreich war aufgegraben und überall lagen Knochen. Ich dachte, die wären aus dem nahegelegenen Fleischkombinat, aber als ich sie mit dem Fuß anstieß, zerfielen sie zu Staub. Ich sah genauer hin, das waren Menschenknochen.“ Lydia Rachmanowa beobachtete, wie die makabere Fracht eilig auf Lastwagen geladen wurde. „Wohin die fuhren“, erzählt sie, „wollte keiner sagen.“

1988 kam für viele der Schock. Da veröffentlichte der Archäologe Semjon Pozniak in der literarischen Wochenzeitschrift Literatura i Mastatsva einen Artikel über seine Untersuchungen in Kuropaty und konfrontierte das weißrussische Publikum erstmals mit der lange verschwiegenen Wahrheit. Die Enthüllungen Pozniaks gingen in ihrer Wirkung weit über das Phänomen Kuropaty hinaus. Sie gerieten zum Fanal des demokratischen Aufbruchs in Weißrussland, verbunden mit dem erwachenden Bewusstsein einer eigenen nationalen Identität.

Unter der Ägide von Pozniak und und der von ihm gegründeten Weißrussischen Volksfront (BNF) fanden in Kuropaty Ende der 80er-Jahre die ersten antikommunistischen Kundgebungen statt, die das Regime mit Schlagstöcken und Tränengas beantwortete. Doch bald schien es, als wollten sich die Verantwortlichen doch der lange verdrängten Vergangenheit stellen. 1989 beschloss der Ministerrat, für die Opfer von Kuropaty ein Denkmal zu errichten. Kurze Zeit später wurde Kuropaty offiziell zur nationalen Gedenkstätte erklärt. 1993 verabschiedete die weißrussische Regierung eine Resolution, wonach das Waldstück bei Modernisierungsarbeiten an der Ringautobahn ausgespart bleiben sollte.

Den hehren Worten folgten Taten, jedoch unter einem anderen Vorzeichen. 1994, nach dem Machtantritt von Staatspräsident Alexander Lukaschenko, nahm die Aufarbeitung der Vergangenheit ein jähes Ende. Im Staate des selbstherrlichen Sowjetnostalgikers galt fortan wieder die Version, deutsche Faschisten hätten die Morde begangen. Auf seinen Befehl korrigierten Expertenkommissionen die Zahl der Opfer schamlos nach unten. Die jetzt begonnene Verbreiterung der Ringstraße um je 20 Meter zu beiden Seiten ist für Lukaschenko, der Kuropaty noch nie besucht hat, daher nur folgerichtig, getreu der Devise: Die Toten unter Asphalt ein zweites Mal begraben.

Doch das wollen viele junge Menschen nicht hinnehmen. Vor allem Mitglieder und Unterstützer der Jugendorganisation der BNF sind zum Widerstand entschlossen. „Es darf nicht sein, dass auf Knochen von Menschen Straßen gebaut werden“, sagt einer der Protestierenden, der seit Beginn der Aktion vor zwei Monaten in Kuropaty Wache hält. „Ich bleibe hier bis zum Sieg.“

Unterstützt werden die Proteste auch von der weißrussischen autokephalen Kirche, die nicht offiziell anerkannt ist. Ein Vertreter, Metropolit Jan Spasiuk, begibt sich regelmäßig nach Kuropaty, um die Holzkreuze zu segnen. „Es ist unsere Aufgabe als Kirche, das Andenken an die Opfer wachzuhalten“, sagt er.

Feind der Verteidiger von Kuropaty ist nicht nur das Regime, sondern auch der Frost. „Die Regierung setzt darauf, dass die Menschen dem Schnee nicht mehr lange standhalten und sich das Problem dann von allein löst“, sagt Alexej Schein, Vize-Vorsitzender der BNF-Jugendorganisation. „Doch die Rechnung wird nicht aufgehen.“

Die neuesten Entwicklungen geben Schein recht. In den vergangenen Tagen wurden wieder 40 Kreuze errichtet, zehn bis 15 Personen sind ständig in Kuropaty präsent und stehen Auge in Auge Kräften des Innenministers gegenüber, die das Geschehen aus einem Bus verfolgen.

Alle warten. So wie die Menschen immer noch auf das Denkmal. Nur einer gedachte bisher in Stein verewigt den Opfern von Kuropaty. 1995 legte US-Präsident Bill Clinton eine Granitplatte in dem Waldstück nieder. Sie wurde vor zwei Monaten von Unbekannten zerstört.

Doch der Geist von Kuropaty lässt sich nicht mehr verbannen. „Dass so viele Menschen diesen Ort vor Schändung und Zerstörung bewahren wollen, gibt Anlass zur Hoffnung, dass das weißrussische Volk eine Zukunft hat“, schrieb die Zeitung Belorusskij Rynok. Auch ein kleiner Zettel, den jemand am Fuße eines Kreuzes in Kuropaty niedergelegt hat, nährt diesen Optimismus. „Wir können niemals der Geschichte entfliehen“, steht darauf. „Wir werden nie das Blut der 30er-Jahre vergessen. Leute, wiederholt nicht die Fehler der Vergangenheit. Und erinnert euch, erinnert euch, erinnert euch . . .“ BARBARA OERTEL

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