Die Wahrheit und die Chefredaktion

Wir verstehen uns gut. Ehrlich. Immer. Na ja, fast immer. Und fast immer gut. Kommt auf die wechselnden Besetzungen an: Wer ist Chef-, und wer Wahrheit-Redakteur oder -Redakteurin? Die eine oder andere Schlacht wurde da schon ausgefochten. Denn eine vor allem unter Lesern verbreitete Legende gilt es an dieser Stelle ein für alle Mal als solche zu entlarven: Nein, die Wahrheit darf nicht alles! Zum Beispiel keine Scherze über „Telefonsex für Schwerhörige“ machen. Eine Parodie auf Telefonsex-Anzeigen, die „extrem laute Riesenohren mit Gehänge“ versprechen sollte, leider aber durch die Chefredakteurin von der Seite gekippt wurde, weil sie „schwerhörigenfeindlich“ sei. Zur Strafe für die „Nummer mit den megafeuchten Muscheln“ mussten die Wahrheit-Redakteure hundertmal „Ich darf keine Witze über Schwerhörige machen“ auf eine Tafel schreiben. Wie Bart Simpson.

Wenn wieder einmal ein weidwund blickender Chef das Wahrheit-Büro betritt und einen Beschwerdebrief oder den Antrag auf Rüge durch den Deutschen Presserat durch die dünne Luft des Wahrheit-Büros schwenkt, dann wissen die Redakteure: Jetzt wäre es eigentlich Zeit, zu kichern. Aber dem Ernst der Lage entsprechend reißen sie sich zusammen und beantworten ruhig und besonnen die aufgeregten Fragen: „Wie konnte das schon wieder passieren? Musste das sein?“ O ja, das musste! Er oder sie werden es schon verdient haben. Es gibt genug öffentliche Nervensägen, die die passende Strafe für fortwährende Arschgesichtigkeit mehr als verdient haben. Ihre Namen sind Legion. Ihre Klagen auch.

Klagen, scheint es, ist auch eine Lieblingsbeschäftigung der Chefredaktion. Wobei die Klagen abnehmen. Die meisten Chefs haben mit der Zeit erkannt, dass es nur zwei Wege gibt, mit der Wahrheit zu leben: sich aufregen oder sich aufregen. Also wählen sie lieber den dritten Weg: Die Wahrheit in den Himmel oder gleich ganz wegloben. Das ist die gefährlichste Art, mit der Wahrheit umzugehen. Denn die Wahrheit darf von ihrer Natur aus nie eine Konsensseite sein. Deshalb erinnern sich die Redakteure in ruhigen Zeiten gern an einen ihrer Grundsätze: Man muss nur wissen, wie weit man zu weit gehen kann. „Das geht zu weit!“, schallt es dann aus dem „Aquarium“ genannten Chefbüro durch den vierten Stock des taz-Gebäudes hinüber zum „Zentrum der Macht“, dem Büro der Wahrheit.

Und schon geht es wieder von vorne los: endlose Diskussionen, ein wenig Geschrei und ein paar Drohungen: Man werde den Redakteuren die Seite weg- und die Oberaufsicht übernehmen, wenn noch mal Fritz Tietz über den Finger im Pupsloch des Finanzministers Eichel schreibe oder Wiglaf Droste weiterhin anzweifeln sollte, dass Wolfgang Grams sich in Bad Kleinen selbst über den Haufen geschossen hat.

Macht doch!, wünscht man sich als armer, unterbezahlter, überarbeiteter und – schnief! – ständig ausgeschimpfter Redakteur manchmal, wischt den Gedanken aber schleunigst beiseite. Eine Wahrheit, von der Chefredaktion gemacht? Nein, niemals! Das geht nun tatsächlich zu weit! MICHAEL RINGEL