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VIELE EXIL-AFGHANEN HABEN FALSCHE VORSTELLUNGEN VON AFGHANISTANDie Stämme sind nicht alles

Afghanen sind gewohnt, „das Beste zu erhoffen und das Schlimmste zu erwarten“. In der fragilen Lage Afghanistans ist zu hoffen, dass der Westen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholt. Dazu gehört, dass eine Nachkriegsordnung die Wünsche der „normalen“ Afghanen in Afghanistan berücksichtigt. Leider ist dies nicht zu erwarten.

Momentan gibt es zwei verschiedene Ansichten, was „nation building“ bedeuten könnte. Die Mehrheit der Exil-Afghanen möchten das Land wieder zu dem machen, was es einst war, als sie ihre Heimat verließen. Die Afghanen in Afghanistan dagegen möchten meist auf die Last der Vergangenheit verzichten und lehnen eine Stammesvertretung durch die „Loya Jirga“ ab.

Es gilt daran zu erinnern, dass keine Regierung und kein politisches System in der jüngeren Geschichte Afghanistans von einer „Loya Jirga“ etabliert wurde. Zwar sind Jirgas sehr effektiv auf lokaler Ebene, um etwa Besitzstreitigkeiten oder innerfamiliäre Konflikte zu lösen, aber diese Erfolge lassen sich nicht auf die nationale Ebene übertragen.

Das beginnt schon damit, dass die ethnische Zugehörigkeit in Afghanistan nie eine große Rolle gespielt hat; Freundschaften und verwandtschaftliche Beziehungen haben sich sehr häufig über Stammesgrenzen hinweggesetzt. Nur ein Beispiel: In meinem Dorf, wo mehrheitlich Paschtunen wohnen, ist ein Tajik der „Stammesführer“. Die gegenwärtige Betonung des Ethnischen ist vor allem ein postsowjetisches Phänomen, das von einer geringen Zahl von Politikern und Warlords im Eigeninteresse aufrechterhalten wird.

Das kurzfristige Ziel sollte daher ein „Council of Leaders“ sein, in dem die verschiedenen Gebiete Afghanistans vertreten sind. Diese Repräsentanten, die dann eine Nachkriegsordnung ausarbeiten, müssten durch ein transparentes Verfahren ermittelt werden. Bei ihrer Auswahl sollten UN-Beobachter aktiv beteiligt sein; es wäre hilfreich, wenn viele von ihnen aus islamischen Ländern stammten.

Es gibt verschiedene Gruppen, die bei einer Diskussion über die afghanische Nachkriegsordnung zwingend zu beteiligen sind. Dazu gehören Stammesführer, religiöse Führer, die Intellektuellen sowie jene, die gegen die Sowjets gekämpft haben. Allerdings müssen die Repräsentanten Zustimmung bei den Afghanen genießen: So hat sich General Dostum, der momentan auf der Seite der Nordallianz kämpft, für eine weitere politische Karriere disqualifiziert. Zu viele lasten ihm Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an.

Für Afghanistan muss eine Übergangsregierung gefunden werden, die die unterschiedlichen Stämme und politischen Gruppen repräsentiert – ohne dass die Verwerfungen der Vergangenheit und die ethnische Zugehörigkeit dominieren. Der traditionelle Stammesrat „Loya Jirga“ ist dafür nicht geeignet. SAYED AQA, DEONNA KELLI SAYED

Sayed Aqa ist afghanischer Entwicklungshelfer. Für seinen Kampf gegen Landminen wurde er 1997 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Deonna Kelli Sayed ist amerikanische Muslimin und setzt sich für den Dialog der Muslime weltweit ein

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