piwik no script img

Das Taubenhaus

Unzählige Erbsen kullerten keck: Warum hatten sich die Tauben gerade Frau Lemkes Dach ausgesucht? Was hielt sie gerade auf diesem? Die Erklärung: Es lag an Frau Köhler

Frau Lemke ist 82 Jahre alt und wohnte gegenüber in einem maroden Haus. Jeden Samstag öffnete sie ihre schweren Gardinen und begab sich, immer eine Kittelschürze über den guten Sachen, auf ihren Balkon. Ein Balkon hoch über der Schönhauser Allee, gebaut, um darauf zu sitzen, dem Alltag zu entfliehen, zu entspannen, zu träumen und dem geschäftigen Treiben auf der viel befahrenen Straße zuzusehen.

Frau Lemke betrat diesen aus einem anderen Grund. Dutzende Tauben hatten sich auf dem undichten Hausdach niedergelassen. Sie schliefen dort und ließen ihre Exkremente direkt auf Frau Lemkes Balkon fallen. Mit Handfeger und Müllschippe rückte sie dem Taubenkot auf den Leib und eroberte sich ihr gemietetes Terrain zurück. Warum hatten sich die Tauben gerade Frau Lemkes Dach ausgesucht, gab es nicht auch noch andere Dächer in der Nähe?

Was hielt sie gerade auf diesem? Die einfache Erklärung – es lag an Frau Köhler. Eine ebenfalls 82-jährige Dame aus der Erich-Weinert-Straße. Diese hetzte jeden Morgen um 8.30 Uhr unter der Hochbahn entlang. In ihren Händen eine Kunstledertasche, aus der sie immer genau gegenüber dem Taubenhaus eine Papiertüte fingerte.

Nachdem sie sich versicherte, dass sie niemand beobachtete, schüttete sie den Inhalt auf das Kopfsteinpflaster unter der Hochbahn. Unzählige Erbsen kullerten keck über den Boden, blitzschnell schossen die Tauben herunter und begannen hektisch ihr Frühstück. Frau Köhler schaute sich noch schnell in alle Richtungen um und packte die Papiertüte hastig wieder in ihre Kunstledertasche. Sie verschwand jedes Mal in Richtung Arnimplatz.

Dieses Schauspiel sollte ewig so weitergehen; Frau Lemke kämpft mit der Kehrschaufel gegen den Dreck in ihrer kleinen Welt, und Frau Köhler streut Erbsen jeden Morgen um halb neun. Bis zu dem Tag, als das Gerüst vor dem Taubenhaus stand. Zwei Tage später rissen die Bauarbeiter die Dachziegel herunter.

Die Tauben, völlig irritiert und ihres Lebensraums beraubt, taumelten wie benommen durch die Luft. In Panik drängten sie auf die Laterne vor unserem Haus. In den folgenden Tagen zählte ich 12 tote Tauben, von Autos zerquetscht lagen sie auf der Straße, ihre Artgenossen mussten hilflos zusehen, wie die ehemaligen Kumpane über die Profile der Autoreifen in alle Winde verstreut wurden. Die beiden Damen, die so hartnäckig gegeneinander kämpften, hatten verloren.

Jahrelang lagen sie gleich auf, Tüte gegen Schippe, immer unentschieden. Diesen Kampf konnten sie nicht gewinnen. Der Gegner war unerbittlich: Dachboden ab, Dachgeschoss rauf. Frau Lemke umgesetzt, Frau Köhler, seit Jahren geübt im heimlichen Abwerfen von Erbsen, musste sich ihren Adrenalinkick nun anders verschaffen.

Seit kurzem kann man Frau Köhler dabei beobachten, wie sie immer wieder die Straße an der Fußgängerampel Schönhauser Ecke Wichertstraße überquert. Mehrere kleine Kicks durchzucken ihren alten Körper . . .

CARSTEN KOZIOLEK

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen