Buddhistische Leere: Interkulturelle Philosophie an der Urania
Die Wirklichkeit für unsagbar halten, das Unsagbare aber inmitten der Sprache auffinden: diese buddhistische Übung bringe jedes Denken zur Verzweiflung, sagt uns die Fachliteratur zur fernöstlichen Erkenntnislehre. Was auch eine schöne Umschreibung dafür sein mag, dass nicht nur die Welt kaum zu fassen ist, sondern auch das, was manche Leute sagen wollen.
Vor genau diesem Problem stand Jens Heise, Privatdozent der Humboldt-Universität, anlässlich eines Vortrags in der Urania. Außer einem alten Japaner, dem kein Wort über die Lippen kam, verrannten sich nämlich die spärlich erschienenen Zuschauer am Ende seines Vortrags über interkulturelle Philosophie in endlos wirre Phrasen. Der Fachmann wunderte sich und zuckte mit den Achseln. Doch auch wenn es die etwas zerzausten älteren Herren mit den viel zu großen Hornbrillen nicht gemerkt haben sollten: Der seriöse Wissenschaftler, völlig korrekt in graues Sakko und schwarzes Polohemd gekleidet, hat einen gut gegliederten, prägnanten Entwurf einer noch sehr neuen Disziplin geliefert: der „interkulturellen Philosophie“. Multikulti in der Branche Descartes’, Hegels und Kants? Aber ja! Denn auch wenn die großen Männer der alles zergliedernden Vernunft es nicht wahrhaben wollten: Die europäische Philosophie ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Auch in der Philosophie hat das auf Europa zentrierte Denken den Blick verstellt für die Gleichwertigkeit der „anderen“ Philosophien. In Japan etwa gibt es keine Vorstellung des Individuums, die getrennt wäre von der Einbettung des Einzelnen in die Gesellschaft. Doch heißt dies nicht, dass deswegen japanische Philosophie sich unterhalb der europäischen Standards bewegen würde. Interkulturelle Philosophie, so Heise, geht davon aus, dass alle Philosophien über ein Mindestmaß an Rationalität verfügen und somit vergleichbar sind. Am Ende scheint es tatsächlich so zu sein wie mit den verschiedenen Sprachen: Jede ist eine gleichberechtigte Annäherung an die Wirklichkeit, nicht eins zu eins übersetzbar und nie vollkommen – eine Universalsprache wird es nie geben. Und genauso wenig die globale Vernunft. Man fragt sich natürlich, warum nicht schon früher jemand darauf gekommen ist, dass man in Europa auch nicht klüger ist als anderswo. Hegel jedenfalls hat's nicht gemerkt, sondern, wie Heise ausführt, etwa der orientalischen Philosophie vorgeworfen, „maßlos“ zu sein und alles Verschiedene zu einem Einheitsbrei zertrümmern zu wollen. Doch bei zwei Philosophen der frühen Neuzeit, Montaigne und Rousseau, ist Heise fündig geworden. Deren Interesse an den „edlen Wilden“, wie man sie in der damals frisch entdeckten Neuen Welt zu finden glaubte, habe den Blick in heilsamer Weise auch auf die Alte Welt zurückgeführt. „Wer ist eigentlich der Wilde?“, haben sie schließlich beim intensiven Vergleich der fröhlichen Urgesellschaft mit den hoch zivilisierten, aber nicht immer so netten Europäern gefragt. Und mit der Kritik an der Zentrierung aller Moralvorstelleungen auf die eigene Kultur einen „Nebenweg“ der abendländischen Philosophie eröffnet, an den nun die interkulturelle Philosophie anknüpfen kann.
Doch warum in die Ferne schweifen?, müssen wir gleichwohl Montaigne und Rousseau entgegnen. Ein Blick auf die Eingeborenen der Insel Westberlin, speziell an den Gestaden der Urania, reicht zur Einebnung jeglichen europäischen Größenwahns völlig aus.
ANSGAR WARNER
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