: Ein Befreier, im Palast gefangen
von GEORG BLUME
Warum kann man dem Präsidenten der Republik China bei einem Gespräch in die Augen schauen, dem Präsidenten der Volksrepublik China aber nicht? Ganz einfach: weil in den traditionellen Lehnstühlen im Taipeher Präsidentenpalast eine Drehfunktion eingebaut ist: Taiwans erster demokratisch gewählter Präsident Lee Teng-hui ordnete den Umbau der Sessel an, um besser kommunizieren zu können. In der Großen Halle des Volkes in Peking dagegen müssen sich der Präsident und sein Gegenüber immer noch umständlich über die Armlehnen neigen, um einander in die Augen zu sehen.
Schade nur, dass der amtierende Präsident Taiwans die Kommunikationsidee seines Vorgängers nicht aufgenommen hat. Chen Shui-bian nutzt die Drehfunktion kaum. Er starrt auf Wandgemälde und Blumensträuße, während er sich und seine Insel als Vorreiter für Demokratie und Menschenrechte in Asien preist. Kein Blickkontakt, was er sagt, wirkt einstudiert. Dabei sind seine Worte geeignet, viele Menschenseelen zu bewegen: „Wir haben in den vergangenen 400 Jahren Invasionen der westlichen Kolonialmächte, die Kolonialherrschaft der Japaner und das autoritäre Nachkriegsregime der Kuomintang erlebt“, erzählt Chen vom großen historischen Leiden seines Inselvolks, bevor er auf den „unbeugsamen Charakter der taiwanischen Demokratiebewegung“ zu sprechen kommt, die ihn vor eineinhalb Jahren an die Macht spülte.
Kein Zweifel: Chen will ein Befreier sein. „Für mich stehen die Werte der Demokratie, der Freiheit und der Menschenrechte über den Werten wirtschaftlicher Entwicklung“, entgegnet er prinzipienfest auf die Frage, wie hoch er die Reformerfolge der Kommunisten in Peking schätze. Doch Chens Stimme klingt monoton, wo sie überzeugend wirken müsste. Und die Augen meiden immer noch jede Kontaktaufnahme.
So stur und starr kennen ihn inzwischen die meisten. Vor allem Freunde und Anhänger sind vom einstigen Helden der taiwanischen Demokratiebewegung enttäuscht. Chen ist ihnen entrückt, seit er im Mai vergangenen Jahres als erster taiwanischer Oppositionspolitiker in den stolzen, noch von den japanischen Kolonialherren errichteten Präsidentenpalast in Taipeh einzog.
Damals herrschte Hochstimmung bei einem Großteil der Inselöffentlichkeit. Zwar hatte Chen die Wahlen nur mit einer knappen relativen Mehrheit von 39 Prozent der Stimmen gewonnen. Doch vollzog sich damals auf Taiwan zum ersten Mal in der langen chinesischen Geschichte ein demokratischer und friedlicher Machtwechsel.
Zu Recht waren viele Taiwaner von Stolz erfüllt, und Chen verlieh diesem Stolz am Tag seiner Amtseinführung Worte: „Taiwan steht auf“, verkündete der neue Präsident. Das war frei nach Mao Tse-tung gesprochen, der am Tag der Gründung der Volksrepublik China vom Tor des Himmlischen Friedens in Peking gerufen hatte: „China hat sich erhoben.“
Seither stellt sich Chen auf eine Stufe mit den großen Chinesen, mag er auch nur 23 Millionen Taiwaner regieren, während sein Gegenspieler in Peking, Partei- und Staatschef Jiang Zemin, über 1,3 Milliarden Chinesen gebietet; mögen auch nur die wenigsten Länder der Welt Taiwan anerkennen und die meisten dafür China. Für Chen ist Jiang trotzdem der Unterlegene: „Ich würde Jiang Zemin gerne fragen, wann er eine direkte demokratische Wahl akzeptieren wird, in der die Opposition eine Chance hat, an die Macht zu kommen“, sagt Chen. „Warum ist das in Taiwan möglich und in China nicht? Schon diese Fragen zeigen, wie weit wir der Volksrepublik voraus sind.“
Diese Gewissheit moralischer Überlegenheit kann Taiwans 50 Jahre junger Präsident referieren. Aber er strahlt sie nicht nach außen. Eher wirkt Chen wie der professionelle Advokat, der er von Beruf her ist.
Dabei hat ihm einst auch sein Charme zum Erfolg verholfen. In Michael-Jackson-Verkleidung eroberte er die Herzen junger taiwanischer Wählerinnen, und als Dissidentenverteidiger trat er so eindrucksvoll auf, dass ihn viele sogar als „Nelson Mandela Asiens“ feierten. Doch inzwischen wirkt der Präsident oft unsicher und arbeitet zu viel, wie einer seiner engsten Mitarbeiter leicht verzweifelt bemerkt. Wie konnte sich der Mann so verändern? Es gibt zwei Erklärungen.
Die wohl gesinnte Chen-Deutung liefert sein alter Mentor Chang Wei-chia. Er kümmert sich als Generalsekretär der größten Fraktion in Chens Demokratischer Volkspartei (DPP) um die aufrichtigen Reste der Demokratiebewegung. Chang führte jahrzehntelang die taiwanische Oppositionsbewegung im französischen Exil. Wie kein anderer kennt er die Tricks der Kuomintang, die Taiwan nach der Flucht vor den Kommunisten aus China im Jahr 1949 bis zu jenem Mai 2000 regierte. Deshalb sieht Chang auch Chens Starre als Trick, um die Parlamentswahl am Sonntag zu gewinnen.
Aus Sicht des erfahrenen Politikers ist der DPP-Präsident bis heute machtlos, weil er über keine Mehrheit im Parlament verfügt, und die dort nach wie vor mehrheitsfähige Kuomintang seine Initiativen erfolgreich blockiert. Das soll sich bei den Parlamentswahlen ändern. Denn selbst wenn es die DPP am Sonntag nicht schafft, die Kuomintang als stärkste Fraktion abzulösen, könnte sie nach deutlichen Sitzgewinnen im Parlament in der Lage sein, eine mehrheitsfähige Koalition zu schmieden. Das zumindest hofft Chang Wei-chia. Andernfalls sieht er schwarz: „Ohne Wahlsieg keine Reformen, und ohne Reformen wird Chen die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 verlieren.“
Der Präsident, der auszog, die Chinesen die Demokratie zu lehren, wäre dann in den Büchern nichts als ein kurzer Vermerk in der taiwanischen Inselgeschichte wert. Seine unzweideutigen Worte – „Taiwan ist ein Demokratiemodell für alle Chinesen auf der Welt“ – würde dann ein anderer Präsident ausländischen Reportern diktieren. Der aber hätte vermutlich nie für seine Überzeugungen im Gefängnis gesessen. Und er hätte auch keine Frau, die im politischen Kampf verletzt wurde und seitdem schwerbehindert ist.
Dass Chen alle Mittel recht sind, um seinen aus der eigenen Biografie abgeleiteten Machtanspruch zu behaupten, bemerkt Lung Ying-tai, die Kulturdirektorin der Stadt Taipeh. Die viel gelesene Schriftstellerin stand einst Seite an Seite mit Chen im Kampf gegen die Kuomintang-Diktatur der 80er-Jahre. Dann zog sie in die Schweiz und nach Deutschland, lebte dort 13 Jahre, bevor sie Taipehs Bürgermeister Ma Ying-jeou, der aufsteigende Stern der Kuomintang und Erzrivale Chens, ins neu geschaffene Amt der Kulturdirektorin der Hauptstadt berief. Schon in zwei Jahren könnte Lung als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft an der Seite Mas in den Wahlkampf gegen Chen Shui-bian ziehen. Bis dahin übt sich die feinsinnige Intellektuelle schon mal darin, den Präsidenten und seine Rolle analytisch auseinander zu nehmen.
Lung hält Chen seine bäuerliche Herkunft vor. Vor lauter Ehrgeiz, ihr zu entkommen, habe Chen bis heute nichts von der Welt verstanden – und vor allem nicht von China. Wie sich die Volksrepublik seit der berühmten Südchinareise von Deng Xiaoping im Jahr 1992 entwickelt hat, warum heute schon 300.000 Taiwaner im boomenden Schanghai leben, weshalb die Wirtschaft dort wächst, während Taiwan in seiner schlimmsten Rezession seit 1951 steckt – all das interessiere den Präsidenten nicht. Stattdessen wolle er die Taiwaner spalten – in echte Taiwaner, die, wie er selbst, seit Generationen auf der Insel leben, und unechte, die erst mit der Kuomintang 1949 über die Taiwanstraße kamen und gemeinsam mit ihren Nachkommen heute 15 Prozent der Inselbevölkerung stellen.
Schon in ihren Büchern erwies sich Lung als radikale Analytikerin. Heute vergleicht sie Chen mit Mao. Wie Mao überkompensioniere Chen seine Schwächen. Wie Mao scheue er die Intellektuellen und schreibe, statt zu diskutieren, selbst Bücher. Wie Mao ertrage er keine Kritik und fliehe in die Einsamkeit der Macht. Etwas übertrieben malt Lung den Präsidenten und sein Gefolge in den Farben einer Führer-und-Bauern-Partei. Doch in ihren Vorwürfen steckt immer auch ein Kern Wahrheit.
Früher als andere hat Lung begriffen, dass ein demokratisch gewählter Präsident, selbst wenn er aus der Opposition stammt, nicht automatisch die demokratische Kultur im Land fördert. Als eine, die auch den Blick von außen gewöhnt ist, enttarnt Lung zudem die Doppelbödigkeit von Chens Auftreten. Gegenüber dem Ausland zeigt er sich als asiatischer Menschenrechtsvorkämpfer, der keine Völkergrenzen kennt. Nach innen aber fördert er einen ethnischen Wahlkampf, in dem die DPP ein spezifisch taiwanisches Inselgefühl gegen alles Chinesische mobilisiert.
Den Präsidenten aber erreicht diese Kritik nicht. In seinem Palast hat er sogar eine heimische „Monica-Lewinsky-Affäre“ überstanden. Und die vermeintliche taiwanische Monica sitzt sogar immer noch neben ihm: Hsiao Bi-khim, 30-jährige Präsidentenberaterin, dolmetscht Chen mit einer Selbstsicherheit, die nicht auf Punkt und Komma achtet. Hsiao war Antirassistin und Frauenrechtlerin, demnächst wird sie auf einem sicheren Listenplatz der DPP ins Parlament einziehen. Vielleicht wird sie nie mehr für Chen übersetzen.
Doch an diesem Tag sichert ihre Gegenwart noch den Eindruck, dass sich hinter der Maske des starren Präsidenten noch ein anderer Chen verbirgt. Als die Tonbänder ausgeschaltet sind und Hsiao das Gespräch locker weiterführt – da endlich gewahrt man Chens zurückhaltenden Blick. Er ist eben ein Bauernsohn, aber wohl doch kein Mao.
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