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Hegemonie des großen Katers

Was weiß man eigentlich über den Jemen – abgesehen von Straßenkontrollen und Entführungen? Zehn Tage lang reisen jemenitische Dichter durch Deutschland und ließen auch in der Literaturwerkstatt Berlin die Esel fliegen

Ein Glück, dass wir diese Lesung überlebt haben. Wie gefährlich es sein kann, ihm zu begegnen, stellt Abdalkarim Razihi mit seinem Lebenslauf klar. Als er geboren wurde, starb die weiße Kuh seiner Mutter. Seine Einschulung überlebte ein Lehrer nicht, bei seinem ersten Besuch auf dem Markt fielen die Esel tot um. Razihi wirft uns seine Sätze mit ausholenden Gesten entgegen, der Übersetzer neben ihm legt einen Sicherheitsabstand ein. Die Sowjetunion brach zusammen, nachdem Razihi dort gelesen hatte. Befriedigt grinst er uns an.

Er hat seine eigene Version vom Dialog der Kulturen. Wir möchten doch, bittet er uns, das Verhältnis von Orient und Okzident nicht länger sehen als Spannung zwischen Arm und Reich. Nein, zwischen Katzen und Mäusen spielt sich die Sache ab. In Zeiten der Globalisierung erzählen die Katzen den Mäusen: „Wir sind eine Familie. Wir müssen uns alle einmal treffen und aussprechen.“ Dann werden die Mäuse überredet, dass der schönste und wärmste Platz für das Treffen nur im Bauch des großen Katers liegen kann.

Razihi braucht seine Manuskripte nicht, er erfindet seine Geschichten, in denen vereinsamte Esel oder verliebte Knaben das Fliegen lernen, aus dem Stegreif neu, selbst vor dem kleinen Publikum, das in die Literaturwerkstatt Berlin gefunden hat. Texte aus dem Jemen werden hier zum ersten Mal zu Gehör gebracht. Günther Orth, der als Übersetzer die erste Anthologie jemenitischer Erzählungen plant, ist bei der Skizze des literarischen Kontextes in drei Sätzen bei tausendundeiner Nacht. Zehn Tage lang hat das Alhambra Kulturbüro Lesungen für die fünf Autoren ausgemacht: in München, Augsburg, Köln, Bremen, Germersheim und Berlin. Und jedes Mal, wenn sie in einen Zug oder ein Flugzeug steigen, „werden wir angeschaut wie eine Gruppe arabischer Entführer“, erzählt Razihi.

Tatsächlich sind „Entführungen“ das Stichwort, mit dem der Jemen am meisten in der Presse auftaucht. Kein Reisebericht kommt ohne Straßenkontrollen, Waffen und Stammesfehden aus. In diesem Kontext hat Michael Roes, Autor und Regisseur aus Berlin, seinen Film „Someone is sleeping in my pain - ein west-östlicher Macbeth“ angesiedelt, der heute in der Literaturwerkstatt voraufgeführt wird. Roes hat versucht, den Kulturschock als groß angelegtes Experiment produktiv zu nutzen. Was passiert, wenn jemenitische Stammeskrieger „Macbeth“ spielen? Ist ihnen die mittelalterliche Welt von Ehre, Gastfreundschaft und Verrat nah? Oder ist allein die Vorstellung, eine Rolle zu spielen, unvereinbar mit ihrem Status? Die Geschichte der Dreharbeiten, die Auseinandersetzungen, das Unvereinbare und das Neuinterpretierte sind Teil des  Films  selbst  geworden. Hand aufs Herz, wer weiß schon, ob der Jemen eine Diktatur oder eine Demokratie ist? Razihi, der selbst für einen Parteienpluralismus gekämpft hat, beschreibt die Sache so: Vor 1990 wurde ein Schriftsteller für seine kritischen Äußerungen verhaftet, jetzt wird er auf der Straße beschimpft und geprügelt. Er selbst sieht es als Ehre, dass religiöse Eiferer zur Verbrennung seiner Bücher aufriefen.

In den Gedichten von Ali al-Muqari und Amna Yousef werden Vergangenheit und Erinnerung zu einem Trauma. „Ich fürchte einen Traum/ der mir bezeugt, dass nichts so zerbrechlich ist/ wie ich./ Ich fürchte einen Traum/ der in meinen unbedachten Alltag platzt/ wie eine Mine“, hat Amna Yousef geschrieben. Die Sprache der Lyrik entsteht am Rand eines großen Schweigens. In kleinen Schritten rückt sie gegen die Wüste und Dürre vor, die sich in den Menschen auszubreiten droht wie vor den Mauern ihrer Häuser.

Diese knappe Diktion, in der jedes Wort zur Geste der Wiederaneignung eines fast schon aufgegebenen Lebens wird, prägt auch die Erzählungen von Izzaddin Said Ahmad. „Du [. . .] fliehst vor den Blicken anderer, die dich von Gehsteig zu Gehsteig verfolgen und deine Atemzüge zählen“, beschreibt er die Atmosphäre der Kontrolle, der Zensur und des verinnerlichten Drucks in „Der Gejagte“. Ein Mann verschwindet in sich selbst wie in einem schwarzen Loch. Die Anstrengung, mit nichts aufzufallen, keine als Widerstand deutbare Zeichen auszusenden, selbst seine Wünsche nicht mehr zu denken, kostet ihn das Leben. In diesen Texten kann man sich nicht einrichten. Sie sind zu Ende, kaum dass man begonnen hat zu verstehen. Man möchte sie jetzt noch einmal hören. So wird Sprache wieder kostbar in einer Zeit der Geschwätzigkeit.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Letzte Veranstaltung aus „Jemen hören und sehen“ ist heute um 20 Uhr die Vorführung des Films von Michael Roes, „Someone is sleeping . . .“, Literaturwerkstatt, Majakowskiring 46–48.

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