Das kunterbunte Spielmobil

Eine schrecklich nette Kapelle: Die 17 Hippies aus Berlin musizieren bis zum Umfallen, ihr monatlicher Haustanz ist Institution. In Frankreich ist das Kollektiv berühmt, hierzulande steht der Durchbruch noch aus. Ein Soundtrack könnte ihn jetzt bringen

von CHRISTIAN BECK

Immer wieder dieselben Geschichten. Als würden sie wahrer, je öfter sie wiederholt werden. „Nein“, schüttelt Gitarrist und Sänger Dirk „Satan“ Trageser den Kopf, „nein!! Und nochmals nein!!!“ Sie seien eben nicht die Erfindung Lutz Ulbrichs, des einzigen Hippies, der es unter seinem Künstlernamen Lüül mit „Morgens in der U-Bahn“ Anfang der Achtziger jemals in die Charts gebracht hat. Oder: Das hätte nun wirklich nix, aber auch überhaupt gar nix zu bedeuten, dass die meisten der insgesamt 26 musizierenden Mitglieder der Familie ihr Geld in echten bürgerlichen Berufen verdienen. Und vor allem: Davon, dass sie damit beschäftigt seien, sich die Taschen voller Geld zu schaufeln, könne auch bei den immer rammelvolleren Haustänzen, zu denen sie seit Jahren jeden ersten Montag im Monat ins Kesselhaus der Kulturbrauerei in Berlin laden, selbstverständlich nicht die Rede sein. Wie sollte auch: bei traditionell freiem Eintritt!?

Alltag in unserer kuschligen „17 Hippies“-Büroetage in der Berliner Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg: Trageser layoutet das neue Album, Lüül zieht neue Gigs an Land, Kristin „Kiki“ Sauer bringt die Datenbanken auf Vordermann, Jakob verwaltet die Etage, Anna checkt die Fotos noch ein letztes Mal, Hernryk und Kerstin kümmern sich um das Merchandising und bauen den neuen Vertrieb auf – und Büronachbar Beck fragt allen Löcher in den Bauch. Wenn nicht gerade in wechselnden Besetzungen neue Müslimischungen kreiert werden oder Kaffee bis zum Abwinken getrunken wird. Und das meiste davon nebenberuflich, denn: Die Kapelle besteht ja nur zum kleinsten Teil aus Berufsmusikern – und zum größeren aus Steuerberaterin, Automechanikerinnen, Suhrkamp-Lektoren, Taxifahrern, und Synchronsprecherinnen. Und das ist – ob’s ihnen nun passt oder nicht – eben doch ein ganz wichtiger Punkt: Denn ob seine Musik einem Schrammler Liebhaberei und Hobby ist oder Beruf, Broterwerb und Pflicht, macht manchmal schon den ganzen Unterschied.

Es war im Frühjahr 1995, dass die „17 Hippies oder so“, wie sie sich damals noch nannten, von Gitarrist Christopher Blenkinsop Gerke und Schlagwerker und „Sackpfeife“ Koma als Trio mit wechselnden Dritten gegründet wurden. Irgendwie hatten die beiden das Gefühl, als Rockband Sidewalk Poets, der sie damals noch angehörten, nicht mehr alles tun zu können, was sie gerne wollten – also eröffneten sie eine weitere Baustelle. Und begannen unverzüglich damit, das wahre europäische und außereuropäische Haus zu errichten, bestehend aus Valsen und Rockern, Ländlern und Freylekhs, Schlagern und Conjuntos, Filmmusiken, Zwiefachen und dergleichen mehr.

Leiden am Lustprinzip

Nichts eint nichts und niemanden mehr als Musik. Das gilt für die Oma und den Punk, welche die monatlichen Hippie-Haustänze im Kesselhaus schon seit jeher in trauter Gemeinsamkeit genießen, ebenso wie für die Landsmannschaften des Kontinents: Gibt es irgendein anderes vergleichbares deutsches Ensemble, das ausgerechnet die rechtsrheinischer Lebensart gegenüber ansonsten besonders skeptischen Franzosen ebenso heiß und innig lieben würden wie die 17 Hippies? Und wann hat man zuletzt ein deutsches Intellektuellenblatt so von einer ungarischen Weise überwältigt erlebt wie neulich die FAZ? „Petra Roseman heißt das Juwel“, schwärmte sie die Multiinstrumentalistin und Sängerin in ihrer flugs ins Internet gestellten Konzertrezension für deren „Csillagok“-Darbietung geradezu anbeterisch an – bis ein kühlerer Kopf als der fiebernde Autor die namentliche Erwähnung für die Printausgabe wieder strich.

Wollen hier ja schließlich keinen unnötig herausstellen! Und damit am Ende gar Zwietracht säen im gleichberechtigten Kollektiv? Die 17 Hippies wissen besser als jeder Anti-Hippie, dass Gleichberechtigung auf 26er-Basis – so viele aktive Mitglieder zählt der in ständig wechselnden Besetzungen von 5 bis 27 Mann spielende Klangkörper mittlerweile insgesamt – das delikate Bandgetriebe in Nullkommanix zum Stillstand brächte. Und sie mussten deshalb natürlich auch schon die erste Krise überwinden, in der es mal wieder um die grundlegenden Basics der Bandfindung ging, wie in jedem anderen Ensemble auch: Gibt es in einem Orchester nur Gleiche unter Gleichen? Niemals! Ist deswegen einer weniger wert als ein anderer? Natürlich nicht.

Es war passiert, was jedem ernst zu nehmenden Ensemble mindestens einmal in seiner Entwicklung passieren sollte: „Vor zwei Jahren ungefähr kamen wir an einen Punkt, da gab’s plötzlich Konzerte, bei denen diese Hippie-typische Mischung aus versierten Musikern und blutigen Amateuren für mich plötzlich gekippt ist“, erinnert sich Kiki: „Wie Amateure spielen kann man in der Anfangsphase eines Orchesters, aber dann muss man sich auch entwickeln, damit es auf Dauer Spaß macht.“ Die Fortschritte aber seien vor lauter von sich selbst besoffenem Lustprinzip-Gewurschtel auf einmal nicht mehr gewährleistet gewesen, weswegen Kiki mit einer Handvoll anderer den Dienst quittierte. Da dem Rest der Band, der so munter wie möglich weitermachte, nun aber integrale Bestandteile fehlten, kam es schließlich zum Knall zwischen Ehemaligen und Nimmermüden: Die einen schmollten, weil sie die Früchte ihrer Arbeit nicht mehr genießen konnten, die anderen, weil sie sich im Stich gelassen fühlten. Die Zukunft des Ensembles selbst stand zur Disposition.

Also raufte man sich wieder zusammen: Die Aufgaben innerhalb der Band wurden neu und diesmal fest verteilt, eine künstlerische Hierarchie zog ein. Und es wurden dem Ensemble neue Ziele gesteckt: Zwei Alben voll der schönsten Dorftanzklassiker sollten erst einmal genug sein – jetzt übernahmen die Musiker mit ihren Ambitionen das Ruder. Erste Unternehmung der neuen Bandphase war das Nebenprojekt „Sexy Ambient Hippies“ mit Schlagwerkern und DJs, das von der Süddeutschen Zeitung anschaulich an der Peripherie zur Neuen Musik verortet wurde: „Man denkt bisweilen an John Cage“, hieß es in der Kritik des Konzerts, mit dem die Hippies im Sommer die Ära Dorn an den Münchner Kammerspielen beendeten, „auch an Frank Zappas ‚200 Motels‘, bevor dann wieder ein Bolero daherschleicht oder eine Klezmer-Klarinette beherrschend in den Raum quäkt.“

Die Berliner Kritiker dagegen waren für das zwischen alle Genre-Stühle platzierte „Sexy Ambient“-Projekt so taub gewesen wie schon zuvor: Keine Rezension nirgends! Wie der Prophet im eigenen Land ja ohnehin nicht sooo viel gilt wie beispielsweise – und bereits erwähnt – in Frankreich. Mag das Publikumsinteresse zumindest in Berlin da inzwischen mithalten können – so waren die 1.500 Karten für die drei Gigs ab Sonntag in ein, zwei, drei Tagen bei anhaltender Nachfrage ausverschenkt –, so sieht die Sache im Rest der Republik bisher noch ganz anders aus: 230 Zahlende in München sind gut, 300 Zahlende in Frankfurt sowieso, 70 Zahlende am Ammersee – auch nicht schlecht.

In Frankreich aber, wo die Hippies nicht nur wegen der zahlreichen französischen Folksongs im Repertoire auf bestens bereitetem Boden stehen, sondern auch wegen gewisser arabischer und anderer eingebürgerter Elemente in der Musik, geschehen Dinge, die hier überhaupt nicht denkbar wären: Gleich reihenweise flogen Veranstalter die 17 Hippies in den vergangenen Jahren zu Festivals ins Land der Weltmusik; und Rémy Kolpa Kopoul, französischer Weltmusik-Radio-Ober-DJ, ließ zu seinem runden Geburtstag kein einheimisches und auch keines der zahlreichen in Frankreich ansässigen Dritte-Welt-Ensembles aufspielen, sondern – die 17 Hippies. Auch das erste große Fernsehfeature über die „17 Hippies“, Katrin Kramers „Music-Planet“-Doku, hatte mit Arte natürlich der deutsch-französische Kulturkanal mit Sitz in Strasbourg in Auftrag gegeben.

Proben für den Filmpreis

Logisch, dass die Damen und Herren Hippies mit ihrer prinzipiellen musikalischen Offenheit auch vor Soundtracks nicht Halt machen. Profitiert hat davon nun Regisseur Andreas Dresen: Der 38-jährige gebürtige Geraer, der mit „Nachtgestalten“ und zuletzt „Die Polizistin“ zwei hoch gelobte Produktionen im Rücken hat, fragte die Live-Spontis für die musikalische Untermalung seines neuen Werks „Halbe Treppe“ an (Kinostart: 2002) und bekam den Zuschlag. Man komponierte die ersten eigenen Stücke, spielte sie ein und – Dresen arbeitet noch immer munter am Film – schon ist der Soundtrack auf dem Markt.

Am Sonnabend werden die 17 Hippies nun zur Verleihung des Europäischen Filmpreises „Felix“ im Neuen Tempodrom in Berlin die musikalische Begleitung liefern. Wenn die Zerlegung ihres umfangreichen Repertoires in tausend mundgerechte kleine Jingles, die sie sich dafür vorgenommen haben, in der rauen Live-TV-Wirklichkeit auch nur halb so gut funktioniert wie neulich bei der ersten Probe fünf Tage vor Buffalo im Büro, dann wird sicher weit mehr als nur eine neue Einladung dabei herausspringen. Doch erst einmal kommen die Record-Release-Konzerte. Und danach geht’s – schon alleine wegen der zahlreichen Musikantenkinder im erweiterten Tross – in die Winterpause.

Schon werden sie aber auch wieder für Festivitäten wie Geburtstage, Betriebsfeiern oder Hochzeiten zu buchen sein, die neben den Haustänzen und gelegentlichen Gastspielen außerhalb der Stadt- und Landesgrenzen seit langem den Alltag des Bandgeschehens ausmachen. Und zwar prinzipiell für alle – außer für politische Parteien und andere „Popelveranstaltungen“ (Lüül) –, darunter auch der eine oder andere Sonderfall. Hat sich doch neulich tatsächlich ein Spezialhallodri mit folgender Ansage am Telefon gemeldet: Er habe vor Jahren schon einmal einen Vertrag mit den Hippies abgeschlossen; leider sei die Hochzeit damals geplatzt. Jetzt gäbe es aber eine neue – Frau wie Hochzeit: Ob der Vertrag wohl noch gültig sei?

Und was hat das Berliner Hochzeitsorchester 17 Hippies dazu wohl gesagt: Och, klar, logisch – wieso soll der Vertrag auch nicht mehr gültig sein?! Neue Freundin, neue Band, warum nicht? Dieses Musiker- und Lebenskünstlerkollektiv steht mit beiden Beinen im Leben. Und zwar bombenfest – wer hätte das von den letzten bekennenden Hippies gedacht?

„Halbe Treppe“: (Rent a Poet/Eigenvertrieb www.17hippies.de), Record-Release-Party: So–Di 2.–4.12, Kesselhaus der Kulturbrauerei Berlin, ab 20 Uhr