: Stabile Harmlosigkeit
Nach dem 11. September ist alles wie zuvor: Talkshows werden geguckt oder Abos gekündigt. Und die heutigen Politiker können aus der Erschütterung nichts lernen
War da nicht etwas? Und was ist daraus geworden? Sie meinen den 11. September? Ja, da war Einiges. Aber es ist nichts daraus geworden, außer Krieg natürlich. Und der kann lange bleiben. Bush hat jedenfalls gesagt, er wolle für seine Amtszeit ein war president sein. Ob er es durchhält, ob er den Krieg so lange festhalten kann, mag niemand einschätzen. Aber sonst ist weiter nichts geworden aus dem Septembertag.
Was muss eigentlich noch passieren, bis etwas passiert? Die Schreckensbilder von Manhattan sind festgeheftet in den Erinnerungen der Milliarden. Aber sie scheinen auch schon abgeheftet, sprechen nicht mehr zu uns. Verwischt sind die Versprechungen und Erwartungen, die sie uns aufzudrängen schienen. Von der Zeitenwende, die unsere kollektive Moral zutiefst umwälzen werde, keine Spur mehr. Alle sind in derselben Zeit geblieben, in der sie schon gewesen waren, niemand fand hinreichenden Grund, sein Leben zu ändern. Der Lärm-, Scherz- und Grinsbetrieb, der zwei oder drei Wochen lang etwas langsamer atmen musste, geht längst unbeeindruckt weiter. Die alten Autoritäten des Staats, der Ökonomie und der Kirchen, die sich schon seit langem in beständigem Wanken erhalten, genießen weiter ihren prekären Respekt und dürfen weiter wanken. Steuern werden gezalt, Abonnements werden nicht gekündigt, und die Einschaltquoten noch der dümmsten Talkshows mit den ewig gleichen Langweilern bestätigen den unveränderten, stetigen Gang des leeren Repräsentativgeschwätzes. Man hat von niemand gehört, dem es auch nur für sechs Wochen die Sprache verschlagen hätte.
Der Krieg, den vorerst die Amerikaner allein führen und gewinnen wollen, lässt die Europäer ihre eigene moralische und politische Reglosigkeit leichter ertragen. Sie sollen dabei sein, ohne ganz und mit eigener Verantwortung dabei sein zu dürfen. Eigentlich ein schmählicher, demütigender Zustand. Aber auch ein bequemer. Vielen kam der große Feldzug der Lichtmacht gegen das Reich des Bösen gerade recht, er erspart eigene Entscheidung. Nur die Deutschen müssen ewig mit sich ringen, obwohl da nicht mehr viel zu ringen ist. Die Nachbarn amüsieren sich schon über unsere querelles d’Allemands. Damit meinen die Franzosen die deutsche Lust am existenziellen Streit über das Notwendige und bereits Geschehene. Wobei die Streitenden gar nicht bemerken, dass die Realität längst kalt lächelnd vorbeigezogen ist.
Bei all ihrem Gründeln sind die Deutschen fest entschlossen, sich durch den 11. September nicht aus ihrer stabilen Harmlosigkeit reißen zu lassen. Und sich etwa zu fragen, ob aus ihrer Erschütterung nicht doch einige Konsequenzen zu ziehen wären. Die politischen Parteien und die Leute der Regierung sind die Letzten, die die Wähler aus ihrer Erschlaffung aufschrecken und ihnen die neue Weltlage erklären möchten. Sie wollen ja selbst in dieser Harmlosigkeit weitermachen, wüssten auch gar nicht, was da etwa ganz anders zu machen wäre. Die Generation, die jetzt die Geschäfte betreibt, hat keine Erinnerung mehr an die großen Welterschütterungen des halben Jahrhunderts nach dem letzten Weltkrieg, an die schweren Berlin-Krisen, an Suez- und Ungarn-Krise, an Warschau und Prag, an Kuba und den schon ganz nahen gegenseitigen Nuklearselbstmord der Leviathane, an den Kennedy-Mord. Erlebt hat sie gerade den Mauerfall, der ihr eine freudige Aufregung brachte. Für die jetzt regierende und repräsentierende Generation, die nicht wenige gewissenhafte Manager zählt, ist es einfach nicht vorstellbar, dass es nicht so weitergeht wie bisher, ein paar Wachstumsdellen werden vielleicht tiefer werden. Nicht vorstellbar auch, dass man von Krieg und schwerer Rezession in eine andere Zeit, eine veränderte Zivilisation gestoßen werden könnte.
Die Parteitage der beiden Regierungspartner wurden abgespult, als habe es den 11. September nie gegeben. Es ging, im Schatten des Krieges, wie immer um das Hin- und- Herrücken der Stühle der Macht, um das Vorrücken und das Zurückstufen im politischen Personal, um Prestige und die Herstellung von Abstimmungseinheiten. Über welche Entscheidungen im soeben begonnenen Wahljahr und in der nächsten Legislaturperiode abgestimmt werden müsste, schien allen gleich egal. Dass Deutschland ebenso wie den übrigen Europäern ein Annum horribile bevorsteht, durfte von niemandem ausgesprochen werden. Die festgebackene Harmlosigkeit sollte nicht angetastet werden.
Das will auch die Mehrheit der Wähler, der Schaffer und der Konsumenten nicht. Sie wollte schon zu Beginn des Jahres nichts wissen von der kommenden Rezession, die damals von den besten unabhängigen Experten beim Namen genannt wurde. Daran auch nur zu denken durfte sich die Regierung nicht erlauben, sie musste, ebenso wie die hartnäckig ahnungslosen Wähler, weiterhin so tun, als ob. Unter der Gemeinschaftsfahne des Als-ob wollen sie nun in den Wahlkampf ziehen, in der beruhigenden Gewissheit, dass auch die Opposition nicht nach einer ungeschminkten Lagebestimmung, gar nach einer Perspektive giert. Auch sie muss sich davor hüten, aus der Kollektivharmlosigkeit auszuscheren. Nur dem Wähler nicht die Laune verderben, es könnte die Konsumlust verderben. Selten waren sich Bürger, Medien und politische Klasse so nahe wie in der Verdrängung des 11. September.
Die Römer nannten das Entsetzen vor der absoluten Naturgewalt, in dem die Sprache versagte und keine vernünftige Reaktion möglich war, den Stupor. Im Stupor vom 11. September war wie nie zuvor die zivilisierte Menschheit vereinigt – und gemeinsam erstarrrt. Auch Hiroschima und Tschernobyl hatten noch keine Menschheitsvereinigung wie diese bewirken können. Was vor aller Augen stand und sprachlos hingenommen wurde, war nicht lange auszuhalten. Man konnte auch keine Lehre daraus ziehen.
Dass Amerika mit Gegengewalt reagieren musste, war selbstverständlich. Aber schon im menschheitsvereinigenden Stupor wussten die meisten, dass jede Art von Gegengewalt keine „angemessene“, vernünftige Antwort sein würde. Es gab und gibt keine angemessene, weiterführende Reaktion, die an das Unmaß des Schreckens heranreichen könnte. Das gezeigt zu haben und zugleich die Verhältnisse hilfloser Gewalt schonungslos aufgedeckt zu haben war der Erfolg der Terroristen. Gott bewahre die Amerikaner und uns vor einem Prozess gegen Bin Laden, der uns aufgezwungen würde, sollten sie ihn lebendig fangen. Über Lehren aus dem 11. September nachzudenken, wird uns schon die schwere Rezession ersparen. Auch sie ist, zum ersten Mal seit 1929, menschheitsvereinigend. Alle werden von ihr gleichermaßen geplagt. Und gleichermaßen versagt in allen Wirtschaftsregionen die ökonomische Vernunft der Experten und der Politiker. Auf den Stupor vom September folgt nun die Lähmung im Wirtschaftsprozess.
Nun feiert mal schön die Geburt des Christuskindes.
CLAUS KOCH
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