: Die Liebe zum Lernen
Die große Pisa-Bildungsstudie fordert uns auf, die veraltete deutsche Bildungskultur zu überwinden. Die Schulen müssen selbstständiger arbeiten und mehr auf Dialog setzen
Der 4. Dezember, Tag der Pisa-Veröffentlichung, wird als schwarzer Tag in die Geschichte der deutschen Schule eingehen. Sowohl die Wirksamkeit wie die Kultur der Schulen sind in Frage gestellt. Diese Doppelniederlage könnte sich als Ausgangspunkt der Erneuerung erweisen. Bisher konnten sich viele damit trösten, unsere Schulen sind vielleicht kein Vergnügen, aber doch effektiv. So nach dem altdeutschen Selbstüberwinder-Motto: Nur bittere Medizin wirkt. Oder man nahm das Gegenteil in Anspruch: Hauptsache, es geht den Kindern gut, Leistung ist nicht so wichtig.
Pisa zeigt, wir brauchen eine andere Ernährung. Was schmeckt, ist gewöhnlich das Bekömmlichere. Gut zubereitete und kultiviert inszenierte Essen vergisst weder der Geist noch der Körper. Aber vielleicht muss man noch tiefer ansetzen: Schluss mit der Bulimie, dieses Fressen und Kotzen, dieses Pseudolernen und Vergessen. Schluss vor allem mit dem Bluff, dieser unglaublichen Energieverschleuderung. Er ist oft das Hauptfach von der Grundschule bis ins Studium, und erst recht in diesem unprofessionellen Referendariat, das die Lehrer zurichtet. Aber es wird nicht leicht sein, Angst und Bluff zu vertreiben und die Unkultur des Misstrauens durch die Kultivierung von Vertrauen zu ersetzen.
Erfolgreiche Länder wie Kanada und die Skandinavier haben es riskiert, Angst aus dem System zu nehmen und Vertrauen zu investieren. Man glaubt schlicht daran, dass Menschen lernen wollen. Eine große Denkschrift in Kanada hieß „For the Love of Learning“. Bei aller notwendigen und kompromisslosen Kritik, die nötig ist: Wir müssen auch an einer „positiven“ Denkschrift arbeiten. Besser als die eine Denkschrift wären viele selbst geschriebene Denkzettel für diese Mentalitätsänderung. Machen wir dafür doch einen Basar auf! Wenn wir jetzt in kollektive Hypochondrie verfallen und der Vorruhestand der Lehrer das Hauptziel der Schule wird, geraten wir erst recht in den Sog der Abwärtsspirale. Depressive Zirkel gibt es genug.
Wir brauchen eine Doppelstrategie: Veränderungen im Rhythmus der tausend kleinen Schritte, aus denen der Alltag besteht, und neue Visionen für den Kurs der großen Fahrt des Bildungsdampfers. Pisa zeigt, der deutsche Sonderweg in der Bildung ist gescheitert. Für die Zukunft brauchen wir eine andere Navigation. Das anachronistische dreigliedrige Schulsystem ist nicht mehr zu verteidigen. Das Hauptargument für die frühe Selektion, dem begabteren Teil der Bevölkerung durch höhere Schulen gerecht zu werden, ist dahin. Das Gymnasium wird dem eigenen Anspruch von Elitebildung nicht gerecht. Denn auch unsere guten Schüler sind international nur Durchschnitt, und die Schwachen sind tatsächlich auf Dritte-Welt-Niveau. Die erfolgreichen Länder beweisen: Gleichzeitige Förderungen der Mehrheit und der Leistungsspitze sind nicht nur möglich, sie bedingen sich.
Das besondere Kreuz unseres Schulsystems ist doch: Wenn ein Schüler schlecht steht, sagen ihm die Lehrer auf der höheren Schule, du bist hier falsch, geh ab. Das funktioniert bis hin zum Verweis von der Haupt- zur Sonderschule. Unser dreigliedriges System produziert so Verantwortungslosigkeit und Verwahrlosung. Das führt zu einer fatalen Grundstimmung und wird übrigens auch in Gesamtschulen keinen Deut besser, wenn sie in ihrer Differenzierung die vergiftete Atmosphäre von Selektion wiederholen. Weder Japan noch Pisa-Spitzenreiter Finnland kennen unseren Selektionswahn. In Schweden ist er sogar gesetzlich verboten. Der misanthropische Zug unserer Schulen hat auch viele Lehrer infiziert, die mal mit anderen Ideen hineingegangen sind, er steigt auch bei Eltern auf, sobald sie über die Schule reden, und er steckt irgendwo in fast allen ehemaligen Schülern. Der Blick in den Spiegel, und Pisa ist ein Spiegel, zeigt unsere hässlichen, besserwisserischen, häufig zur Demütigung anderer neigenden Züge.
Neben der Arbeit an der mentalen Feinstruktur muss die Makrostruktur des Systems neu gedacht werden: Schulen schneiden im internationalen Vergleich umso besser ab, je autonomer sie sind. Die gut platzierten skandinavischen Länder haben ihre traditionell zentralistischen Systeme dezentralisiert. An die einzelnen Schulen in Finnland und Schweden geht das ganze Geld, auch das für Lehrergehälter. Die Zentrale gibt in diesen Ländern Ziele vor und kontrolliert die Ergebnisse. Die Wege zu den Zielen überlässt man den Schulen. Ja, sie müssen ihren eigenen suchen! Dafür müssen sie mit sich selbst in Dialog treten. Bloßes Ausführen geht nicht mehr. Zur Autonomie der Schulen gehört natürlich auch, dass sie sich für den Lernerfolg der Schüler verantwortlich fühlen.
Alle nahe liegenden Erklärungen für die deutsche Misere gehen daneben. Natürlich könnte die Ausstattung der Schulen besser sein, die Klassen kleiner und die Lehrer jünger. Daran liegt es nicht. Alles Ausreden. Nicht mal die Menge der Unterrichtsstunden gibt den Ausschlag. Schon die vorangegangene internationale Tims-Studie, die Fähigkeiten in Mathematik und Naturwissenschaft verglich, hat nachgewiesen, dass mehr schlechter Matheunterricht nur noch mehr schadet.
Lernen ist ein geistiger Vorgang. Das hört sich verblasen und vorgestrig an. Dass dies alles eine Frage von Mentalität und Kultur ist, klingt erneut nach Ausrede. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass das Nervensystem der Bildung, vom einfachen Lernen bis hin zum komplexen Verständnis, zwischen den Menschen verläuft und nicht im Versorgungsschacht der Institutionen. Diese Nerven werden aus drei Grundstoffen gebildet: Vertrauen, Stolz und gegenseitiger Anerkennung. Sie ermöglichen den Dialog, also den dauernden Wechsel im Status von Sender und Empfänger. Die Frequenz dieses Wechsels ist ein Maß für die Intelligenz von Organisationen – und genau darin ist Deutschland schwach.
Diese Dialogschwäche, diesen konstitutiven Intelligenzmangel, beschreiben Schulforscher so: Die Klasse soll wie in einem Spiel mit verteilten Rollen herausfinden, was dem Lehrer als fertige Lösung und als richtiger Weg längst vorschwebt. „Dabei stören immer zwei Sorten von Antworten“, stellt Pisa-Forscher Jürgen Baumert fest, „die intelligente Antwort, die vorgreift und beiseite geschoben werden muss, und der Fehler.“ Wie wichtig beide Ressourcen sein können, machen uns die bei Pisa erfolgreichen Ostasiaten vor, sie lernen, in Alternativen zu denken. Es gibt dort meist mehr als eine Lösung.
Wenn der prototypische Lehrer in Deutschland Angst hat, sein Ziel nicht auf dem angestrebten geraden Wege zu erreichen, verengt er noch mehr den Horizont und wird ungeduldig. Diese „stressinduzierende Choreografie“ eines monologischen und belehrenden Unterrichts wurde so ausgeprägt nur hier zu Lande gefunden. Dabei sind „alternative Lösungswege“ und die Leidenschaft am Dialog das Wichtigste, das moderne Gesellschaften brauchen und die Wirtschaft auch. REINHARD KAHL
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