: Egal, wenn’s wehtut
Cornelia Kurth zeichnet das Bild einer Jugend, die wenig mit liberalen Idealen zu tun hat, aber sehr viel mit einem Kampf um Autonomie: „Ein Jahr mit 90 Tagen“
Aus Kindern werden Leute und aus Kurzgeschichten manchmal Romane. Als Cornelia Kurths Erzählung „. . . kein bisschen Dankbarkeit“ im vergangenen Jahr im taz.mag erschien, war es die Geschichte einer namenlosen Heranwachsenden, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert und an den eigenen wie den Ansprüchen ihrer Schutzbefohlenen und Vorgesetzten mehr und mehr scheitert – ein kühles Stück Prosa aus der Ich-Perspektive.
Nun ist die Romanfassung erschienen, eine Art elektronisches Tagebuch im Buchformat. Und siehe da: Die Perspektiven verschieben sich. Aus dem widerborstigen Mauerblümchen wird unversehens doch noch so etwas wie eine ungelenke Heldin. Der Liebe sei Dank. Einer Liebe allerdings, die in Kurths Roman so lebensnah chaotisch und unglamourös verläuft, wie man es in Romanen nicht alle Tage erlebt.
Über weite Strecken ist dieser seltsame Lebensbericht so amüsant und wendungsreich geschrieben, dass er sich für eine öffentlich-rechtliche Verfilmung geradezu anbietet. Mit leicht ekligen ersten Küssen, reichlich Alkohol und Behinderten zwischen Kommandoton, Verzweiflung und Galgenhumor – wie die querschnittsgelähmte Sissi: „Ist irgendwo ’ne Treppe, dann rattert sie die einfach runter: ‚Ist mir doch egal, ich merk ja eh nicht, wenn’s wehtut.‘ “
Eins allerdings ist gleich geblieben: Bei der groben Palma (heißen Kinder heute wirklich so?) ist kein Trost für Schwerstbehinderte. Geht von ihr nicht sogar eine Gefahr aus? Bereits in ihrem ersten Roman „Friederikes Tag“ hatte sich Cornelia Kurth wenig um politische Korrektheit gesorgt und das Bild einer Jugend gezeichnet, deren Alltag wenig mit den Idealen einer liberalen Pädagogik gemein hat und deren Protagonisten sich gleichwohl daran abarbeiten, eine eigene Moral zu finden.
Von anderen Pubertätsromanen unterscheidet sich „Ein Jahr mit 90 Tagen“ durch den Mangel an nostalgischer Unschärfe. Das Heranwachsen ist bei Cornelia Kurth kein traurig-süßer Abschied von der Kindheit, eher schon ein zäher Kampf um Autonomie – schmerzhafte Fehler inklusive. REINHARD KRAUSE
Cornelia Kurth: „Ein Jahr mit 90 Tagen“. Rowohlt, Reinbek 2001, 155 Seiten, 6,59 €, 12,90 DM
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen