: „Politik von Zuckerbrot und Peitsche“
Interview BARBARA OERTEL
taz: Bietet das Abkommen vom Petersberg die Chance für einen friedlichen Neubeginn in Afghanistan?
Ahmed Rashid: Dies ist die erste legitime Regierung in 23 Jahren, die von den meisten afghanischen Gruppen und von der internationalen Gemeinschaft anerkannt ist. Diese Regierung muss jetzt ihre Autorität und ihren Einfluss auf alle ethnischen Gruppen ausdehnen. Das wird ein Prozess sein und kann nicht über Nacht geschehen. Doch die Ausgangsbedingungen sind gut. Was die Vereinten Nationen versucht haben, ist ja das: eine neue Generation von Politikern aus dem Norden und Süden zusammenzubringen. Die keine Warlords sind, sondern eine nationale Vision haben, von einem modernen, friedlichen und stabilen Afghanistan. Sie können die ethnischen Unterschiede in Afghanistan überbrücken. Was im Süden passiert, ist noch unklar. Da wissen wir noch nicht, welche Warlords an die Spitze kommen werden. Dennoch: Der Prozess hat begonnen.
Ist der neue Übergangspremierminister Hamid Karsai eine gute Wahl?
Seine Person stellt den Versuch dar, die tribale Hierarchie wiederzubeleben. Diese ist weitgehend verloren gegangen, durch die Warlords, die Drogenschmuggler und die Mafia-Gruppen. Auch in ihm spiegelt sich die neue Politikergeneration wider. Wichtig ist auch, dass er aus Kandahar stammt. Das zeigt deutlich: Seht her, den Taliban gegenüber stehen wir, ein anderes Kandahar.
Raschid Dostum, der usbekische Warlord im Norden, hat angekündigt, die neue Regierung boykottieren zu wollen.
Jede Stufe innerhalb dieses Übergangsprozesses wird sehr schwierig werden. Es wird weiterer Verhandlungen bedürfen. Jemand, der sich heute stur stellt, könnte schon morgen zu einem Dialog bereit sein. Dostums Opposition ist ein Versuch, doch noch Sitze in der Regierung zu bekommen. Das ist ein Teil der Politik. Dabei weiß Dostum genau, die Amerikaner und Briten sitzen in Masar-i Scharif, und ohne sie kann er sich nicht bewegen. So könnten die Amerikaner sagen: Okay, Dostum, es gibt keine Lebensmittel, kein Geld, keinen Wiederaufbau mehr. Das hat alles viel mit dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche zu tun.
In Afghanistan soll eine UN-Schutztruppe stationiert werden. Die Afghanen schätzen die Präsenz fremder Truppen auf ihrem Territorium traditionell nicht gerade. Wie sollte das Mandat aussehen?
Die Afghanen werden ausländische Truppen für einen bestimmten Zeitraum akzeptieren. So lange, wie diese Truppen ganz spezifische Aufgaben haben. Das heißt humanitäre Aufgaben, die Gewährung von Sicherheit bei der Verteilung von Hilfsgütern, Unterstützung beim Wiederaufbau von Flughäfen und Brücken. Außerdem muss eine neue afghanische Armee ausgebildet werden. Kurzfristig ist die Schulung von afghanischen Polizeikräften noch wichtiger.
Wer sollte Kontingente stellen?
Mehrere europäische Länder sollten sich beteiligen, nicht nur Frankreich und Großbritannien. Das gilt besonders für Deutschland mit seinem Einfluss, politischem Gewicht, seiner Finanzkraft. Ich habe vor einigen Tagen Joschka Fischer getroffen und ihm Vorschläge gemacht. Wenn Deutschland keine Truppen schicken will, dann soll es Offiziere und Polizisten schicken. Oder Ingenieure, die beim Wiederaufbau helfen. Aber eine deutsche Präsenz ist notwendig. Denn im Gegensatz zu den Briten und den Franzosen sind die Deutschen neutral, sie haben keine politischen Affinitäten zu einer bestimmten Fraktion.
Die afghanischen Verfassungen seit 1964 schrieben die Gleichberechtigung von Mann und Frau fest. Glauben Sie, dass der jetzt begonnene Prozess die Chance bietet, die Frauen wieder in ihre Rechte einzusetzen?
Ich war in der vergangenen Woche in Kabul. Der Enthusiasmus bei den Frauen, den man da sehen konnte, ist unvorstellbar. Das Welternährungsprogramm hat in der vergangenen Woche 2.400 Frauen eingestellt, das erste Mal in fünf Jahren, um Getreide an Familien zu verteilen. Die Frauen werden im humanitären Sektor eine führende Rolle spielen. Diese öffentliche Rolle, zusammen mit den internationalen Organisationen wie der UNO und NGOs, heißt aber auch, Druck im Hinblick auf Frieden auszuüben. Ich bin sicher: In spätestens sechs Monaten gibt es eine Frauengruppe in Masar-i Scharif, die Dostum auffordert, mit dem Wahnsinn aufzuhören.
Sie schreiben, der Einfluss der Nachbarstaaten müsse möglichst gering gehalten werden , wenn sich die Situation in Afghanistan wirklich stabilisieren soll. Ist das realistisch?
Der Einfluss anderer Staaten auf Afghanistan war desaströs. Ich meine damit die Rolle von Staaten wie Iran, Russland und Pakistan. Jetzt sind alle diese Staaten Mitglieder der Anti-Terror-Allianz. Die USA müssen eine wichtige Rolle spielen, wenn der Krieg erst einmal beendet ist, um sicherzustellen, dass sich diese Staaten nicht in Afghanistan einmischen und ihre eigenen Klans in der Regierung installieren. Das bedeutet wieder eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche von Seiten der internationalen Gemeinschaft. Ein weiterer Aspekt ist der Wiederaufbau. In allen diesen Staaten ist die Wirtschaft kollabiert. Ein Wiederaufbauprogramm sollte sicherstellen, dass das Material für den Wiederaufbau aus den Nachbarländern kommt. Das wäre eine Möglichkeit, die Wirtschaft auf die Beine zu bringen. Diese Staaten müssen einbezogen werden in einen Prozess der Stabiliserung und Befriedung Afghanistans.
Pakistans Präsident Pervez Muscharraf musste ja mit seinem Schwenk vom Taliban-Förderer zum Anti-Taliban-Kämpfer einen ziemlichen Drahtseilakt vollführen. Wie stark ist seine derzeitige Stellung?
Sie ist jetzt viel sicherer als vor dem 11. September. Die Demonstrationen für die Taliban sind abgeflaut, diese ganzen Ballons der radikalen Gruppen, wie „die Taliban sind unbesiegbar“, „der Dschihad wird siegen“, „tausende US-Soldaten werden getötet werden“, sind zerplatzt. Die pakistanischen islamistischen Parteien sind jetzt in einer tiefen Krise. Die ganze Ideologie eines halben Jahrhunderts ist hinweggefegt. Da liegt die Chance für Muscharraf: Bevor diese Parteien sich neu gruppieren, neu strukturieren und neue ideologische Positionen einnehmen, muss er Wahlen abhalten lassen. Und dies, damit eine zivile Regierung an die Macht kommt. Das ist ein entscheidendes Moment, um die fundamentalistischen Gruppen zu marginalisieren. Denn sie werden ein schlechtes Wahlergebnis erreichen.
Besteht nach wie vor die Gefahr einer Talibanisierung in Pakistan?
Diese Gefahr besteht immer noch, da viele Taliban-Anhänger nach Pakistan geflohen sind. Auch besteht das weite Netz von Koranschulen, Moscheen und Parteien, die diese Leute unterstützen, weiter. Doch jetzt kommt es auf die Regierung an. Bis zum 11. September hat Pakistan dieses ganze Konzept des „heiligen Kriegs“ unterstützt. In Kaschmir und in Afghanistan. Muscharraf hat diese Politik umgedreht. Aber es gibt andere Aspekte dieser Politik, die die Militärregierung jetzt umsetzen muss. Das Erste ist, dass entschieden gegen diese radikalen Gruppen in Pakistan vorgegangen werden muss. Das heißt ein klares Bekenntnis, dass der Dschihad nicht länger Bestandteil der pakistanischen Außenpolitik ist. Dabei spielt der Wandel der Erziehungspolitik eine ganz entscheidende Rolle. Die jungen Leute, die in den Koranschulen einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, müssen in normale Schulen, um so eine Generation zu schaffen, die produktiv und nicht destruktiv für die Gesellschaft ist. Diese Leute müssen mit Jobs versorgt werden.
Welche Konsequenzen haben die jüngsten Entwicklungen für den Konflikt in Kaschmir?
Die Logik der Entscheidung, die Muscharraf nach dem 11. September getroffen hat, diktiert hier das weitere Vorgehen. Das heißt, es muss Frieden mit Indien geschlossen werden. Ich hoffe, dass die Regierung versteht, dass man nicht sagen kann: Wir unterstützen nicht mehr den Dschihad in Afghanistan, aber wir unterstützen ihn in Kaschmir. Die Logik diktiert den Beginn eine Dialogs. Auch Indien muss diese Chance erkennen und Pakistan bei dem Übergang helfen. Wenn Indien auf seiner unflexiblen Position verharrt, wird es für Muscharraf schwieriger, die Idee eines Friedens in Kaschmir zu verkaufen.
Glauben Sie, dass die USA Pakistan weiter unterstützen werden?
Sollten sich die USA weiter engagieren, wird das mindestens für die Dauer von zwei Jahren sein. Ehrlich gesagt, wird das in Pakistan sehr skeptisch gesehen. Denn die Geschichte zeigt, dass die USA Pakistan immer benutzt und dann fallen gelassen haben.
Hat der Krieg gegen Afghanistan dem Al-Qaida-Netzwerk den entscheidenden Schlag versetzt?
Die Basen in Afghanistan sind zerstört, nicht jedoch die Zentren im Ausland. Mitglieder befinden sich in mehr als 30 Ländern. Soweit ich weiß, ist seit dem 11. September nur die Zelle in Spanien zerstört worden, wo acht Mitglieder der Gruppe verhaftet wurden. Keine westliche Regierung, weder die deutsche, die britische noch die amerikanische haben bis jetzt eine Al-Qaida-Zelle zerstört, die in Verbindung mit dem Attentat in New York stand. Und das zeigt, wie effektiv sie sind. Ich habe Angst, dass es zu Racheakten kommt, wenn Bin Laden getötet wird.
Erwarten Sie US-Angriffe auf weitere Staaten?
Das wäre sehr unklug, wenn die USA das jetzt tun würden, auch angesichts der Lage im Nahen Osten. Das wäre wirklich eine Provokation. Wenn sie ein anderes muslimisches Land angreifen würden, würde das zu einem Chaos führen. Das wäre wohl auch das Ende der Anti-Terror-Allianz.
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