Im Visier: Somalia

von BETTINA GAUS

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist für einen möglichen Ansturm somalischer Flüchtlinge nach Kenia und Äthiopien gerüstet. Eine Erkundungsdelegation der Bundeswehr hat die Möglichkeiten ausgelotet, den Zwergstaat Dschibuti als Stützpunkt für deutsche Marineeinheiten zu nutzen, die vermutlich vor der somalischen Küste eingesetzt werden sollen. Unterdessen tourt der US-Staatssekretär Walter Kansteiner quer über den Kontinent und erklärt das ostafrikanische Land zu einem möglichen Hort des Terrorismus. Zugleich betont er allerdings, dass vor einem Militärschlag erst noch weitere Beweise gesammelt werden sollen.

Die werden sich schon finden lassen. Eigentlich kann Somalia auf eine jahrhundertelange Tradition liberaler Religiosität zurückblicken. Aber seit Beginn der 90er-Jahre haben islamistische Gruppen dort an Einfluss gewonnen: eine Folge von Bürgerkrieg, dem Zerfall staatlicher Institutionen, einer gescheiterten UN-Militärintervention und der Sehnsucht weiter Teile der Bevölkerung nach Sicherheit. Wenigstens die schienen Islamisten erfüllen zu können.

Sichtbares Zeichen ihrer Aktivitäten war zunächst vor allem die Einführung so genannter islamischer Gerichte in vielen Regionen des zersplitterten Landes, so 1994 auch in Teilen der umkämpften Hauptstadt. Verteidiger gab es nicht. „Das ist nicht nötig, denn es gibt dort keine Ungerechtigkeit“, sagte damals in Mogadischu der Vorsitzende des zuständigen Komitees, Scheik Scharif Muhyddin. „Der Koran würde Ungerechtigkeit nicht zulassen.“ Innerhalb von nur zwei Monaten wurden zwölf Männern und einer Frau als Dieben eine Hand abgehackt. Die Gliedmaßen wurden öffentlich ausgestellt.

Die drakonischen Maßnahmen zeigten Wirkung und waren deshalb bei vielen Anwohnern populär. „Jetzt kann ich endlich wieder auch abends auf die Straße und dabei sogar Schmuck tragen“, meinte eine Hausangestellte. „Jeder hier in der Gegend akzeptiert die islamischen Gerichte“, sagte ein Arzt. „Es muss eine Grenze für die Freiheit geben.“ Parolen standen auf Hausruinen: „Wir brauchen den Koran.“

Nach Jahren der Angst vor räuberischen Milizen bedeutete es ein lange nicht gekanntes Glück, sorglos einen Spaziergang machen zu können. Übrigens standen auch viele Ausländer den islamistischen Organisationen zunächst positiv gegenüber. Manche internationalen Hilfswerke arbeiteten mit ihnen eng zusammen: „Es kommt wirklich alles bei den Bedürftigen an“, lobte seinerzeit der Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation.

Islamisten beschränkten ihre Tätigkeiten nicht auf humanitäre Hilfe und die Einführung islamischer Gerichte. Wie inzwischen bekannt ist, waren sie 1993 an Angriffen auf US-Soldaten in Mogadischu beteiligt, bei denen 18 amerikanische Soldaten starben. Sie haben die Kontrolle über den Finanzsektor und – per Satellitennetz – über die Massenkommunikation des Landes erlangt. Aber wer sind „die Islamisten“? Und wer unterstützt sie aus welchen Motiven?

Seit Jahren gibt es Hinweise, denen zufolge Kräfte aus dem Sudan, aus Saudi Arabien und aus dem Iran in Somalia mitmischen. Aber nichts deutet darauf hin, dass diese dort eine Kaderorganisation aufgebaut haben, die weltweit Terror verbreitet. Vielmehr sind es ganz unterschiedliche Interessen, die religiösen Fundamentalismus in dem Land nähren. Zwischen somalischen Privatleuten, die sich einfach nur nach Ruhe sehnen, Geschäftsmännern, die auf verbesserte Handelsbeziehungen hoffen, Kriegsfürsten, die militärische Unterstützung wünschen und religiösen Fanatikern gibt es Schnittmengen – und tiefe Gräben. Eine Grenze zwischen verdächtigen Islamisten und harmloser Zivilbevölkerung lässt sich schwer ziehen.

Wer Bomben für ein geeignetes Mittel hält, um islamistische Terrornetzwerke zu bekämpfen, der dürfte auch Somalia für ein geeignetes Ziel dieser Bomben halten. Wer hingegen meint, die USA nutzten den Krieg nur als Vorwand zur Begleichung alter Rechnungen, der wird in einem derartigen Militärschlag einen Beweis für diese These sehen. Nur ein umfassendes politisches Konzept kann verhindern, dass das geschundene Land noch tiefer ins Elend gestürzt wird. Für ein solches Konzept aber gibt es bisher weder einen Entwurf – noch Geld.

Afghanistan ist nicht Somalia. Diesen Staat würden die USA gewiss gerne als Vorzeigemodell für eine erfolgreiche Militäroperation präsentieren. Aber nicht einmal dort scheinen genügend Mittel für Friedenssicherung zur Verfügung zu stehen. Die geplante UNO-Friedenstruppe soll lediglich ein paar tausend Mann umfassen. Eine Sicherung der Straßen zu den Landesgrenzen hin wird nicht für nötig gehalten. Mächtige Militärführer haben bereits jetzt den Boykott der Übergangsregierung angekündigt. Wegen anhaltender Kämpfe und Plünderungen ist UN-Angaben zufolge humanitäre Hilfe nur in stark eingeschränktem Umfang möglich. Das kennt man, nur zu gut. Aus Somalia.

Jede dauerhafte Friedenslösung in dem Land würde Milliarden kosten. Viele Milliarden. Bereits 1993 haben elf politische Organisationen in Somalia die UNO schriftlich aufgefordert, „alle öffentlichen Aktiva und Gebäude“ zu übernehmen, die dem ostafrikanischen Land gehörten. Sie wünschten die Errichtung eines UN-Protektorats. Die Vereinten Nationen dachten gar nicht daran, diesen Wunsch zu erfüllen. Sie hätten es überhaupt nicht gekonnt, und sie könnten es auch heute nicht. Angesichts des tiefen Misstrauens, das der jahrelange Bruderkrieg hinterlassen hat, müsste jeder Inhaber eines öffentlichen Amtes bis hinunter zum Dorfpolizisten auf Jahre hinaus vom Ausland kontrolliert werden. Wer will das bezahlen?

Derzeit sieht es so aus, als sollten deutsche Marineeinheiten eingesetzt werden, um Gewässer vor der somalischen Küste zu überwachen und US-Kriegsschiffen logistische Hilfe zu leisten. Aus innen- und bündnispolitischer Sicht ein kommoder Auftrag: Faktisch wäre die Bundesrepublik damit an einer Operation gegen Somalia beteiligt, ohne dass ein einziger Soldat feindlichen Boden betreten oder der Bundestag erneut befragt werden müsste. Ein solcher Einsatz wäre vom bereits erteilten Mandat des Parlaments gedeckt.

Aber die Seewege nach Somalia sind ein vergleichsweise kleines Problem. Solange der Waffennachschub an den Landesgrenzen zu Kenia und Äthiopien nicht unterbunden wird, gibt es keine Aussicht auf Frieden. Im Rahmen der UN-Militärintervention von 1992 bis 1995 befanden sich zeitweise fast 30.000 ausländische Soldaten in dem ostafrikanischen Land. Sie schafften es nicht einmal, die Hauptstadt zu kontrollieren. Wie viele Soldaten möchte die Welt schicken, um die somalischen Grenzen zu sichern? 500.000?

Wer die Lunte an Somalia legt, kann in Ostafrika einen Flächenbrand auslösen. Der Kolonialismus hat somalisches Siedlungsgebiet willkürlich in fünf Teile zerstückelt und pansomalischen Nationalismus befördert. Die somalische Flagge zeigt einen Stern mit fünf Zacken, die somalisch bewohnte Gebiete repräsentieren, darunter den Norden Kenias, den Kleinstaat Dschibuti und den äthiopischen Ogaden. Der schon gewonnen geglaubte Krieg um dieses Gebiet wurde 1978 infolge einer Schaukelpolitik der Weltmächte verloren – was den Anfang vom Ende des Regimes von Siad Barre bedeutete und einen bis heute schwelenden Konflikt begründete.

Jede Entwicklung in Somalia hat weitreichende Auswirkungen. Auf Äthiopien, das derzeit hofft, den Ogaden-Konflikt mit US-Unterstützung endlich dauerhaft für sich entscheiden zu können. Auf Dschibuti, das als eigenständiges Land nur wegen seiner exponierten geografischen Lage am Südausgang des Roten Meeres und damit verbundener ausländischer Interessen vor allem als französischer Militärstützpunkt überleben kann. Und auf Kenia, dessen nördliche Gebiete umstritten sind. Die Sicherheitslage in der Hauptstadt Nairobi hat sich in den letzten Jahren durch den Zustrom wohlhabender somalischer Flüchtlinge und den damit einhergehenden Aufschwung des Waffenhandels kontinuierlich verschlechtert.

Wie schlecht die an überschaubare Machtverhältnisse gewöhnte internationale Gemeinschaft mit den komplizierten Verhältnissen in Somalia umgehen kann, zeigte sich bereits vor rund zehn Jahren. 1992 intervenierte dort eine zunächst US-geführte UNO-Truppe mit dem Ziel, eine Hungersnot zu bekämpfen. Infolge eines unzureichenden Mandats und umfassender Ahnungslosigkeit hinsichtlich der vor Ort bestehenden Verhältnisse mutierten die ausländischen Streitkräfte zur Konfliktpartei, beschäftigten sich bald nur noch damit, die Sicherheit der eigenen Leute zu gewährleisten und räumten schließlich 1995 erfolglos und gedemütigt das Feld. Seither sind die Chancen auf Frieden in Somalia nicht gestiegen.

Bettina Gaus war von 1991 bis 1996 taz-Korrespondentin für Ost- und Zentralfrika mit Sitz in Nairobi. Ihr besonderes Interesse galt Somalia.