piwik no script img

Die Seele regt sich im Urin

Malen mit Dynamit: Eine Tagung des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin suchte nach Koppelungen zwischen künstlerischer Praxis und wissenschaftlichem Experiment

von NILS RÖLLER

Bevor er ernsthaft Wissenschaft treiben wollte, schrieb August Strindberg noch einen Roman – über den scheiternden Wissenschaftler Borg, den die Tücken von Chemie und Optik zu einem einsamen Menschen werden lassen. In „Das offene Meer“ will Borg eine öde nordische Felslandschaft durch Sprengungen verändern, um sie dann mit Hilfe optischer Linsen lieblich erscheinen zu lassen. Die geplante südliche Perspektive sollte ein Geburtstagsgeschenk werden, mit dem er seiner Geliebten imponieren wollte. Doch statt mediterraner Anmut erblickt die Angebetete am Festtag eine Toteninsel und verlässt den Fachmann für Dynamit. Schuld daran ist ein unglücklich gewählter Standort, von dem aus die Linsen eine verzerrte Ansicht bilden.

August Strindberg kannte die Kraft des Zufalls in der Chemie und die Bedeutung von Standortveränderungen aus praktischer Erfahrung. Ende des 19. Jahrhunderts fing er mit präparierten Bildplatten Sternenlicht ein und ließ beim Malen den Zufall wirken. Auf Pappen trug er Farbe auf, beobachtete das Quellen von Pigmenten und Chemikalien und formte den Bildungsprozess nachträglich mit dem Malmesser. Er wollte nicht natürliche Gegenstände abbilden, sondern den Gestaltungsprozess der Natur selbst einfangen. Auf der Tagung „Experimentalkulturen“ des in Berlin ansässigen Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte interessierten die Bilder des Schweden aber nicht aus ästhetischen Gründen, sondern aus epistemischen.

Unter „epistemischen Dingen“ verstehen die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe „Experimentalisierung des Lebens“ (Sven Dierig, Peter Geimer, Henning Schmidgen und Hans-Jörg Rheinberger) dynamische Gegenstände des Wissen. Diese bilden und verändern sich im Wechselverhältnis von Techniken wie dem Mikroskop, dem Strommessgerät oder feinen mechanischen Uhren und dem Alltag im Labor. Die Laborpraxis ist wiederum in ein kulturelles Umfeld eingebettet. Solch ein Umfeld begünstigt etwa die Kraft des Zufalls oder lehnt diese überzeugt ab. Strindbergs Bilder sind ein glückliches Bindeglied zwischen dessen Leidenschaft für die Chemie und seinen literarischen Werken, wie Thomas Fechner-Smarsly in seinem Beitrag „Den Zufall kopieren“ darstellte.

Während Strindberg vom Zufall fasziniert war, sah der Preuße Emil Du Bois-Reymond 40 Jahre zuvor den Zufall als störendes Element an. Sven Dierig argumentierte in seinem Vortrag „Die Apollon Maschine“, dass für Du Bois-Reymond das Experiment eine Form des antiken Kraftsports war. In einem Biedermeier-Laboratorium maß der Offizierssohn mit Apparaten die elektrische Kräfte des männlichen Bizeps. Eine diesbezügliche Zeichnung stellt ein krudes Gerät auf einem Tisch vor, an dem ein göttergleicher Jüngling sitzt. Der wohl geformte Körper ist kaum bekleidet und soll gezielt eine Nähe zwischen dem griechischen Gott Apollon und dem Laboranten suggerieren. Das Experiment verstand Du Bois-Reymond als Teil der humanen Bildung. Nicht das vom Vater finanzierte Labor, sondern das Football-Stadium und der Lunapark waren um die Jahrhundertwende die Orte, an denen wiederum Walther B. Canon Befunde sammelte, um dem Leben auf die Spur zu kommen. Cannon nahm von Besuchern der Vergnügungsstätten Urinproben und verglich sie mit dem eigenen Exkrement. Er wollte feststellen, ob sich seelische Erregungen im Urin niederschlagen. Cannon gehörte zu einer Reihe Physiologen, die systematisch den Sprung vom toten Körper der Anatomie zum belebten Körper der Physiologie vollzogen.

Die Erforschung des Lebens steht in einem innigen, aber problematischen Verhältnis zur Zeit. Heute ist es selbstverständlich, dass weltweit Beginn und Ende eines Tages definiert werden. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Er ist mit der besonderen Situation der Schweizer Stadt Neuchâtel verknüpft: 1862 suchte man dort eine Möglichkeit, um die in den Bergen verstreut arbeitenden Uhrmacher so zu informieren, dass alle Uhren gleiche Stunden und Minuten anzeigen. Man baute zunächst ein Observatorium, um aus dem Gang der Gestirne eine für alle gültige Zeit abzuleiten, und teilte diese täglich den Uhrmachern mit.

Henning Schmittgen verdeutlichte vor diesem Hintergrund eine produktive Wendung von wissenschaftlichen Experimenten in den künstlerischen Lebensversuch des Schriftstellers Marcel Proust. Labore zur Erforschung von Reizreaktionen in Yale und Leipzig waren um 1900 primär daran interessiert, störende Körperregungen zu eliminieren. Proust trieb hingegen die strukturelle Störung durch den eigenen Körper auf die Spitze. Seine geräumige Pariser Wohnung war wie ein wissenschaftliches Labor von Außenreizen abgeschottet. Er hörte manchmal nur das Pochen des eigenen Blutes. Das war für ihn Anlass, sein Ich in verschiedene Bewusstseine aufzuspalten und diese getrennt zu befragen. Proust spürte einer literarischen Physik nach, wie Joseph Vogl argumentiert: Im Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ stellt Proust vielfältige Zeitperspektiven dar, die analog zur entstehenden Vielfalt der Zeit innerhalb der zeitgenössischen Physik seien.

Die Tagung trug dieser Vielfalt Rechnung, indem sie patchworkartig historische Situationen nebeneinander legte und so den Blick für Unterschiede schärfte. Man enthielt sich eines zusammenfassenden Überblicks, zeigte aber explosive Seiten, die Bruno Latour umriss. Der stellte die Wissenschaftsgeschichte als kritisches Unternehmen dar, das Handlungsmöglichkeiten erarbeitet. Ansatzpunkt war für ihn, dass die heutige Gesellschaft Tausende von Verkehrstoten akzeptiert, während der Tod einiger weniger auf Grund BSE-erkrankter Rinder ein Skandal ist, der die Volkswirtschaften turbulent verändert. Der Vorteil einer historischen Beschäftigung mit den Wissenschaften vom Leben liege darin, auf Vielfältigkeiten hinzuweisen, die Politik alleine weder wahrnehmen noch erzeugen kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen