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Von Brockenweibern und Häuslingen

■ Die Industrialisierung hat dem Land um Bremen einige Eigenheiten ausgetrieben – welche, dokumentiert eine Ausstellung im Schlachthof dokumentiert Veränderungen im ländlichen Alltag / Der Schlachthof selbst gehört mitten ins Thema

Auf dem Feld bei Ritterhude steht ein Dutzend Landarbeiter und Landarbeiterinnen. Sie haben Heuharken in der Hand und warten – geschafft von der Arbeit – vor einem riesigen Heuwagen. „Aber hier links in der Ecke, da sieht man schon eine Pferdeharke“, deutet Markus Haake auf den Bildrand. „Und die wurde vermutlich von einem der ersten Lokomobile gezogen, die es in der Hamme-Wümme-Region gab“. Markus Haake vom Bremer Verein Mikrokosmos hat an die 150 Bilder und Fotos zusammengetragen, die den ländlichen Raum um Bremen im Zeichen industriellen Wandels zeigen. Und das heißt vor allem: ihn im Übergang zeigen. Noch gibt es die kleinen Cigarrenfabriken in Osterholz-Scharmbeck und bei Worpswede, in denen Familien per Hand süddeutschen Tabak drehen – bald werden sie von großen Fabriken geschluckt. Noch wird der Torf auf Kähnen nach Bremen gebracht – bald wird die Steinkohle ihn als Brennstoff gänzlich überflüssig machen. Noch wird das Heu von Hand geharkt – bald werden Maschinen die Landarbeiter und abhängigen Kleinbauern arbeitslos machen, und sie werden als Proletarier die Fabriken in und um Bremen mit Arbeitskraft beliefern.

Das alles ist freilich nichts Neues, man kennt die Folgen der Industrialisierung oder glaubt es wenigstens. Und man kennt auch die Dörfer, die quasi die Freizeit-Region Bremens ausmachen: Worpswede, Ritterhude, Osterholz-Scharmbeck, das Blockland und vieles mehr. Das Verdienst der Ausstellung, die heute Abend im Kulturzentrum Schlachthof eröffnet wird, ist, dass das Großthema der Industrialisierung mit einem kleinteiligen Einblick in das Alltagsgeschehen der Wümme- und Hamme-Siedler verbunden wird. „Es geht hier nicht um Nostalgie, aber es geht schon darum, ganz konkret zu zeigen: Wo sind mit der Industrialisierung Handlungsspielräume für die Menschen verloren gegangen“, so der Kulturwissenschaftler Markus Haake. Er verweist auf die Bauernschaften, kleine dörfliche Einheiten, in denen über die Entwässerung, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Methode, entschieden wurde. Bis um 1860 der Entwässerungsverband am rechten Weserufer gegründet und die Angelegenheit zentral geregelt wurde. „Das hat die Region enorm gepusht“, erklärt Haake. Das Vieh, das vorher knietief im Wasser stand und auch ersoffen oder verhungert ist, steht jetzt ungefährdet auf fast trockenen Weiden. Die Viehzahl steigt, mehr Vieh heißt auch mehr Schlachtvieh, die Privatschlachtereien boomen – bis der Bremer Senat sie aus hygienischen Gründen verbietet und auch der Schlachtvorgang durch den Bau des Bremer Schlachthofes (1879-1882) industrialisiert und zentralisiert wird. Die ehemals selbständigen Schlachterfamilien werden zu Lohnabhängigen. So die Zeitraffer-Version.

Die Bilder der Ausstellung sind sehr viel epischer. Aus dörflichen Archiven, aus privater Hand und aus dem Bremer Staatsarchiv hat Haake sie zusammengetragen und für die Ausstellung mit kurzen Texten versehen. Ganz wichtig: Torf. Viele Fotos zeigen die Torfbauern auf ihren Kähnen. Und die sogenannten Brockenweiber, Frauen, die beim Ausladen der Kähne an den Torfhäfen – zum Beispiel in Findorff – halfen und dafür den brockigen Rest bekamen. Die Torfkanäle zerschneiden um 1850 die Landschaft um Bremen, tausende von Booten schippern darauf herum. Allerdings ist die Zeit des Torf-Booms auch sein Ende, denn letztlich kann Torf als Brennstoff, von dem in den Fabriken immer mehr gebraucht wird, nicht gegen die Steinkohle anstinken. E. Heyduck

„Der mikroskopische Blick – Arbeit und Leben in der Hamme-Wümme-Region im Zeichen des industriellen Wandels“ Eröffnung heute um 20 Uhr im Kulturzentrum Schlachthof. Mit Vortrag der Historikerin Elisabeth Dickmann.

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