: 39 Sekunden
■ Thomas Lehrs „Frühling“ ist spannend – wenn der Autor sie nicht selbst liest
Ein entsetzliches Ereignis steht im Mittelpunkt des neuen Buches „Frühling“ von Thomas Lehr. Christian, der Ich-Erzähler der Novelle, wagt sein Leben lang nicht daran zu denken. Erst im Angesicht des Todes kommt die Erinnerung langsam. Thomas Lehr zählt den Countdown der letzten 39 Sekunden vor Christians Tod herunter. In diesen 39 Sekunden setzt die Erinnerung ein an jenen Nachmittag im Jahre 1961, an dem Christian mit seinem Bruder Robert vom Angeln nach Hause kommt und ein stark ver-narbter Mann nackt im elterlichen Garten steht. „Appell, Herr Doktor! Appell!“ skandiert der hagere Mann, bis ihn die Polizei abführt.
Mit einem Schlag offenbart sich die schreckliche Wahrheit: Der Vater war KZ-„Arzt“. Seit dieser Entdeckung ist der Zerfall der Familie nicht mehr aufzuhalten. „Frühling“ ist die Geschichte eines Lebens, erinnert in 39 Sekunden, und – so Lehr – der Versuch, einen historischen Stoff mit stilistischen Mitteln des 21. Jahrhunderts aufzuarbeiten. „Helfen Sie. Mir! Glauben Sie: Ich würde niemanden. Bitten, wenn mir nicht immer: der Bürgersteig: das Haus: hören Sie diese dunkle Straße sogar: diese Stadt. Selbst! Immer wieder. Entgleiten würde.“
Ein postmodernes Buch, nicht nur aufgrund seines literarischen Anspielungsreichtums, sondern auch aufgrund des Fernseh-Zapping-Stils, nach dem die Erinnerungsarbeit des Sterbenden abläuft. „Ich wollte einen modernen Menschen in seiner Zersplitterung beschreiben, der zuletzt versucht, aus Fragmenten ein ,ganzes Ich' zu rekonstruieren“, sagt Lehr.
Eine aktuelle Thematik, von Lehr wesentlich unkonventioneller geschrieben als andere seiner Werke – etwa der sehr bekannt gewordene Roman „Nabokovs Katze“. Dennoch verlief die Lesung dröge. Die „gute Stube“ der Stadtwaage verbreitet für sich bereits eine angedumpfte 50er-Jahre-Atmosphäre – und da Lehr äußerlich reglos und ohne Blickkontakt zum Publikum vorlas, sprang leider kein Funke über. Doch das selber lesen lohnt absolut.
Katharina Borchardt
Th.Lehr: Frühling, Aufbau-Verlag
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen