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Gewinn- und Verlustrechnung

■ Neuer Bestandskatalog der niederländischen Kunsthallen-Gemälde

Manchmal sind es Kleinigkeiten, die entscheiden: der Winkel, in dem das Licht durch die Zweige fällt oder der Millimeter, um den die Hintergrundgestaltung vom Vergleichsbild abweicht – und schon kann sich die Frage nach der Urheberschaft eines Kunstwerks neu stellen. Schon zweifelt die Wissenschaft, ob das Bild tatsächlich von Bruegel oder bloß aus dessen Werkstatt stammt. Schon wird gefeilscht, ob die Gestik einer Figur noch als typisch gelten kann oder als bloße Kopie.

Ein schmaler Grat ist es, auf dem Kunsthistoriker bei der Zuschreibung von Gemälden wandeln. Trügerisch kann auch die Namensvorgabe auf dem samt Bild erworbenen Rahmen sein. Und so ist sie nie wirklich abgeschlossen, die Diskussion um die Werkzuschreibung. Immer wieder sind Überraschungen möglich, „Gewinne“ und „Verluste“. Eine neue Etappe auf diesem Weg markiert der jetzt von der Hamburger Kunsthalle edierte neue Bestandskatalog der niederländischen Gemälde von 1500 bis 1800.

Resultat der fünfjährigen Forschungen Thomas Ketelsens, sind zwar „keine revolutionär neuen Zuschreibungen“, aber immerhin Umschreibungen bei über 60 der untersuchten 300 Gemälde: Für 30 von ihnen wurden neue Künstlernamen gefunden, 20 bis 25 frühere „Originale“ sind es nun nicht mehr. 20 weitere wurden in die Anonymität zurückgegeben, ohne dass sich ein neuer Name angeboten hätte.

Und ein paar Überraschungen liefert der neue Katalog, bestehend aus Abbildung, minutiöser Beschreibung und Konkordanz im Anhang, natürlich doch: So ist nicht mehr sicher, ob alle Anton van Dyck zugeschriebenen Gemälde wirklich vom Meister oder bloß aus seiner Werkstatt stammen. Und auch der renommierte Willem Kalf ist vermutlich nicht Schöpfer eines Vanitas-Stilllebens, wie bisher vermutet.

Als „Verlust“ betrachtet die Wissenschaft auch die Tatsache, dass ein Franz van Mieris d. Ä. zugeschriebenes Bildnis eines elegant gekleideten Gelehrten „nur“ von seinem Sohn Willem stammt. Einige Gemälde wurden im Zuge der Forschungen gereinigt, und auch dies kann, wenn sich Farbwerte dramatisch ändern, völlig neue Perspektiven in puncto Urheberschaft eröffnen.

Ein umfassendes, handliches Kompendium ist dieser als Band II betitelte Bestandskatalog, dem ab 2003 vier weitere zur mittelalterlichen Malerei, dem 19. Jahrhundert, der Klassischen Moderne und der Galerie der Gegenwart folgen sollen.

En passant offenbart das Buch wieder einmal die Absurdität des Genie- bzw. Label-Gedankens, mit dem man dem künstlerischen Gehalt der Werke genausowenig näherkommt wie etwa durch das Zählen der Farbpigmente. Die gern gebrauchten Vokabeln „Gewinn“ und „Verlust“ sind weiteres verräterisches Indiz einer Besitz-Mentalität, die jener der Börse – spekuliert wird in diesem Fall mit dem Renommee einer Sammlung – verdächtig ähnlich ist. ps

Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle, Band II: Die niederländischen Gemälde 1500–1800. 360 S., broschiert, 68 Mark/34 Euro

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