: Die Reform entlässt ihr Schulfach
Es begann als avantgardistischer Versuch und endete als ordinäres Fach: Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) wurden die Visionen gestutzt
BERLIN taz ■ Als die Roten Roben vergangene Woche ihr „Urteil“ über Ethik und Religion in Brandenburg verkündeten, war klar: Kirche und Staat haben eine große Chance zu einer wirklichen Bildungsreform verpasst. Vom Esprit des neuen Faches „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) ist nicht viel übrig geblieben. Die ursprüngliche Idee war, dass Schüler überkonfessionell, ja über die Trennlinien verschiedener Nicht-/Glaubensrichtungen hinweg „gemeinsam leben lernen“ sollten – in einem Fach. Das Fach sollte sogar einmal „Gott und die Welt“ heißen, wahrscheinlich der angemessene Name für Werteunterricht in einem Land, in dem die Mehrheit atheistisch ist. Nur mehr 20 Prozent konfessionell gebundene Bewohner leben in Brandenburg.
Jetzt ist wieder alles beim Alten: Gott wird in einem Fach behandelt; die Welt in einem anderen. Damit endet die Geschichte eines Aufbruchs. Direkt nach der Wende trafen sich überall in der DDR Gruppen, die sich für eine allgemeine ethische und religionskundliche Bildung in der öffentlichen Schule aussprachen, ohne jedoch an den konfessionellen Religionsunterricht zu denken. Wen hätte man damit erreichen wollen?
Die Karlsruher Richter machten den beiden erbitterten Streithähnen Kirche und Staat nun einen Vergleichsvorschlag, der die letzten Besonderheiten des Faches planiert. Als LER aus der Taufe gehoben wurde, ging es darum, den westlichen Kultur- und Wertekanon auch in einem Land verstehbar zu machen, in dem es Religionsunterricht nicht gab. Alle Schüler sollten ihre christlich-abendländische Kultur kennen lernen – unabhängig von ihrer privaten Religiosität oder der ihrer Eltern. Ziel war es gleichzeitig, die ethische und moralische Verunsicherung zu thematisieren. Lehrer und Schüler sollten über die unterschiedlichen Weisen ihrer Lebensbewältigung ins Gespräch kommen: Kirchliche und staatliche Lehrkräfte begegnen sich in ein und demselben Unterrichtsfach. „Authentische Vertreter“ anderer Religionen und Weltanschauungen treten in LER auf – das war der Plan. Doch die Realität sah schon anders aus, ehe sich die Richter über den Fall beugten.
Verschiedene Weltsichten sollten sich begegnen
Die evangelische Kirche, zunächst am Modellversuch LER beteiligt, distanzierte sich bald. So änderte sich sukzessive der Charakter des Faches. Es gab keine regulären kirchlichen Lehrkräfte mehr – damit fiel das Kernstück von LER, die Integrations- und die Differenzierungsphasen. In denen sollten sich zunächst alle Schüler quasi ökumenisch in LER begegnen – um sich dann wieder zu trennen für die Phase Ethik/Lebensgestaltung und bekennenden Religionsunterrichts. Auf Drängen der Kirchen hin erhielten Kinder zudem die Möglichkeit, sich von LER befreien zu lassen, die nämlich, die den Religionsunterricht besuchten. Diesen Reli-Unterricht hielten die Kirchen in eigener Verantwortung an den Schulen ab. Um die Bedeutung des Faches zu erhöhen, wurden schließlich Zensuren eingeführt. Damit war LER ein normales Fach.
Karlsruhes Vergleich sanktioniert diesen Weg. Die Richter erkennen im Grundsatz LER als eigenständiges Fach an – und heben die Bedeutung des konfessionellen Religionsunterrichts gleichzeitig ein wenig an. Das meiste, was Karlsruhe fordert, steht bereits in Brandenburgs Schulgesetz. Schon heute soll Religion nicht in die Randstunden fallen. Nur die Befreiungsregelung von LER wird erleichtert.
Im Grunde ist nun Gleichstand mit den anderen Ländern hergestellt. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Anderswo ist Religion das obligatorische Fach, in Brandenburg ist es halt LER.
Die einzige verbliebene Besonderheit ist die: Schüler, die in Brandenburg sowohl LER als auch Reli besuchen wollen, können dies tun, ohne es anzukündigen. Von den weit reichenden Zielen eines Unterrichtes in dem sich Schüler und Lehrer unterschiedlicher Herkünfte und Erfahrungen begegnen, ist dies meilenweit entfernt. Schade.
HENNING SCHLUSS
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin
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