: Eine Art nationale Therapie
Rätselhafte Bräuche: Kubaner entdecken ein Fest, und Deutsche sind ohne Misstrauen freundlichvon RICARDO GESSA ABREUS, Kuba
Das erste Mal in meinem Leben brach Weihnachten in Havanna über mich herein. Es war im Dezember 1997. Ich rätselte herum, was mit diesem Fest wohl gemeint sei. Ein paar Wochen später stieg Papst Wojtyła vom Himmel auf Kuba und Fidel Castro herab. Daraus zog ich zunächst irrtümlich den Schluss, dass der sonderbare Jahresendkarneval, den es im sozialistischen Kuba zum ersten Mal gegeben hatte, in exklusivem Zusammenhang mit dem merkwürdigen Altherrenpaar in Weiß und Olivgrün zu tun habe. Im darauf folgenden Jahr hoben die Behörden mit beinahe feierlicher Diskretion das Weihnachtsverbot auf.
Zwei Jahre später geriet ich in Berlin in einen Trubel, der dem meiner ersten beiden Weihnachtsfeste in Havanna durchaus ähnelte. Die Unterschiede liegen natürlich auf der Hand: In Berlin ist es verdammt dunkel und kalt. Und während die Kubaner es verstehen, selbst eine Beerdigung ausgelassen zu feiern, kreisen die Gespräche der Berliner um Jobs und Geld. Weihnachten gleicht einer Gewerkschaftssitzung. Ich erklärte mir das mit der landestypischen Wesensart, die Deutschen gelten auf Kuba schließlich als ausgesprochene Arbeitstiere.
Anfangs vermutete ich, dass die PR-Abteilung des Vatikans hierzulande sehr effiziente Arbeit leistete. Berlin strotzte vor Weihnachtsschmuck. Ganz wie zu Hause eigentlich, nur weitaus perfekter. Bald erfuhr ich allerdings, dass der Papst in Rom gar keine Tantiemen für die massenhafte Vervielfältigung der weihnachtlichen Ikonografie einstrich. Ich verwarf die gesamte Wojtyła-Hypothese und begann einem langsamen Entdeckungsprozess.
Absurderweise erst hier in Deutschland erfuhr ich von Bräuchen aus der Kinderzeit meiner Eltern, die den hiesigen überraschend ähnlich gewesen sein mussten. Auch auf Kuba hatte man Nadelbäume aufgestellt und geschmückt: mit Kerzen, Buntpapier und mit Wattebäuschen, die als Schneesurrogat dem landesüblichen Klima besser standhielten.
All diese Dinge waren im Jahr meiner Geburt, 1972, schon aus dem familiären Wortschatz verschwunden. Fast dreißig Jahre später, in Berlin, lauschte ich nun dem Nachhall von Großmutters Erzählungen. Als senile Fantasien hatte ich sie abgetan. Aus Büchern, die es auf Kuba nicht gibt, erfuhr ich, dass die Kubaner Weihnachten zum letzten Mal 1968 gefeiert hatten. Ein Jahr später wurde das Fest „vorläufig“ aufgehoben. Der Máximo Líder hatte sich in den Kopf gesetzt, die Zuckerproduktion auf 10 Millionen Tonnen hochzutreiben. Weil aber Weihnachten und die Zuckerernte zusammenfallen, wurden die Feiertage kurzerhand untersagt. Die „Suspendierung“ währte dann 28 Jahre. Die ehrgeizige 10-Millionen-Tonnen-Marke verfehlte die Zuckerindustrie trotzdem.
In Berlin träume ich heute manchmal von einer tropischen Weihnacht. Mit Palmen statt Tannenbäumen und Kokosnüssen statt Bratäpfeln. Mit einem Mulatten zu Pferd anstelle des bärtigen Schlittenlenkers. Ketzerisch, hätte meine Großmutter gesagt.
Erlebt habe ich in Berlin Familienfeiern, wie sie auch auf Kuba sein könnten: Der Mann stößt mit der verhassten Schwiegermutter an. Schwestern, die sich nicht ausstehen können, weinen vor Wiedersehensfreude. Nahe und ferne Verwandte umarmen sich in dieser außergewöhnlichen Nacht mit einer Inbrunst, die erstaunlich ist.
Genau wie in Havanna dienen die Tage vor dem Jahresende wohl auch in Berlin als Vorwand. Menschen, die wir mögen, dürfen einmal etwas ausdrücklicher gemocht werden. Etwas, worin Deutsche ziemlich unerfahren sind.
Wirklich verstanden habe ich die Hintergründe des ganzen Spektakels aber nicht. Es muss ein Nutzen darin liegen. Für viele Berliner scheint Weihnachten die Therapie des Jahres zu sein. Sie dürfen nach Herzenslust einkaufen, ohne ideologische Kritik fürchten zu müssen. Sie dürfen mit Speckrollen am Leib den Januar erreichen. Sie dürfen Schokolade vertilgen und auf den Fitnessclub pfeiffen. Man darf aber auch nett zu Leuten in der U-Bahn sein. Die Menschen denken dann nicht gleich, man sei auf Geld oder Sex aus. Beim Nachbarn darf man einfach klingeln und ihn um Gewürze bitten. Sogar einen Freund darf man besuchen, ohne lange vorher telefonisch einen Termin vereinbart zu haben.
Vielleicht stecken ja die Krankenkassen hinter der ganzen Weihnachtsfeierei? Es dürfte insgesamt billiger sein, einmal im Jahr eine derartige nationale Therapie zu finanzieren, als die Menschen monatelang von Dunkelheit, Kälte und Ordentlichkeit zu kurieren. Intelligent sind sie, die Deutschen.
Aus Havanna kommt Ricardo Gessa Abreus, 29 Jahre. Er promoviert in Berlin im Fach Germanistik.
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