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Die Beerdigung ist nicht zu Ende

Es gibt kein besseres Mittel, Menschen den Patriotismus abzugewöhnen, als ihn zu einem Teil der staatlichen Politik zu machen. In der UdSSR passierte genau das – das gesamte sowjetische Volk wurde zu Patrioten erklärt, mit Ausnahme „der Feinde des Volkes“, pathologischen Elementen, mit denen man leicht fertig wurde. Alle anderen galten per definitionem als Patrioten.

Die Durchsetzung von Patriotismus mit staatlichen Mitteln ist ein Akt der Verzweiflung: Die Staatsmacht, die ihre Bürger schon im vorhinein zu Patrioten abstempelt, wartet dabei gar nicht erst auf deren eigene Willensbekundung, ja verfälscht diese sogar massiv. Sie geht dabei unbewusst davon aus, dass man sie gar nicht lieben kann, sondern diese so genannte Liebe nur mit Gewalt zu erzeugen ist.

So war die Beziehung des Individuums zu seiner Heimat in der UdSSR eine Sache staatlicher Bedeutung und von vornherein entschieden. Der Gedanke des Patriotismus verschwand. Bekundete jemand eine gesteigerte Liebe zur Heimat, wurde das als pragmatische Geste betrachtet, als ein Streben, sich den besten Platz unter der Sonne zu sichern. Wenn diese Handlung außergewöhnlich war, zum Beispiel das Leben geopfert wurde, illustrierte ihre Ausführung den „beispielhaften sowjetischen Menschen“, was diese Handlung gleich depersonalisierte.

Alexander Solschenizyn erzählt im „Archipel Gulag“,[1]wie verblüfft er war, als ein Gefangener ihm als „rumänischer Spion“ vorgestellt wurde. Er war überzeugt, dass ausnahmslos alle aufgrund erfundener Anschuldigungen verhaftet worden waren; und da die Mehrheit der Verhafteten der Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten beschuldigt wurde, d. h. der Spionage, beschlich ihn der Verdacht, dass es Spione von Natur aus gar nicht gab.

Genauso verhielt es sich mit dem sowjetischen Patriotismus bis zum 1. Januar 1992, als das gigantische Land, das für sich den Titel „Tausendjähriges Reich“ reklamierte, das nie zu Ende gehen würde, unerwartet von der politischen Landkarte verschwand. Von diesem konkreten Tag an wurde der sowjetische Patriotismus logisch möglich, da der Mechanismus der automatischen Zuschreibung des Patriotismus aufhörte zu funktionieren.

Es zeigte sich, dass es außer der großen politischen Landkarte noch eine Karte der Mentalitäten gibt, auf der, von Kindheit an, die feinen, jedoch ausnahmslos wichtigen Ereignisse jedes konkreten Lebens verzeichnet sind. Auf ihr existiert die Sowjetunion weiter.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde deutlich, das es immer noch eine große Auszahl sowjetischer Menschen gibt. Sie sind sowjetisch, unabhängig davon, wie sie zu Sowjetzeiten zu dem „real existierenden Sozialismus“ standen. Häufig erwiesen sich die Dissidenten im Sinne ihrer Unangepasstheit an die Lebensbedingungen im postsowjetischen Russland als sowjetischer als die ehemaligen kommunistischen Apparatschiks. Mit Schrecken registrierten viele Menschen in den 90er-Jahren, dass ihre Karte der Mentalitäten rein sowjetisch geblieben war.

Oft wird zum Beweis dafür, wie weit sich die Jugend verändert habe, darauf verwiesen, dass die heutigen Schüler bereits nicht mehr wissen, wer Stalin oder Lenin waren, von Molotow[2]oder Kirow[3]ganz zu schweigen. Doch diese Uninformiertheit beweist nicht, dass sie die sowjetische Vergangenheit einfach hinter sich gelassen haben und fähig wären, in ein lichtes, kapitalistisches Morgen zu schreiten – wenn das überhaupt existiert. Das „Sowjetischsein“ haftet hauptsächlich im Unterbewusstsein. Die Schüler, die nicht wissen, wer Stalin war, benutzen solche Worte wie „Evro-Remont“ oder „Inomarka“,[4]die nur im postsowjetischen Raum Sinn machen; ihre Irreligiosität, ihre simple Beziehung zum Geld (als Mittel, um alle Probleme zu lösen), ihre Arbeitsethik, in der die Beziehung zur Arbeit nicht nur als Mittel, um den Lebensunterhalt zu verdienen existiert, sondern ein eigener Wert – alles dies sind Fragmente des gigantischen postsowjetischen Syndroms, von dem sich zu kurieren bislang nur sehr wenigen gelungen ist.

Zu Sowjetzeiten war ich kein Dissident, stand dem „Land des siegreichen Sozialismus“ aber auch nicht pathetisch gegenüber – aus einem natürlichen Gefühl des Protestes heraus gegen etwas, was einem von außen aufgezwungen wurde. Die Nostalgie kam sofort nach dem Zerfall dieses Landes und der Umbenennung der Stadt auf, in der ich geboren wurde – aus Leningrad wurde St. Petersburg. Sie verstärkte sich nach einem zweijährigen Aufenthalt, zuerst in Frankreich, dann in den Vereinigten Staaten. Als ich mit meiner Frau nach Moskau zurückkehrte, umgaben wir uns mit sowjetischen Kunstprodukten, Plakaten, Abzeichen, Kalendern und einfach Kitsch.

Jedoch nahm die Welle der Nostalgie stetig ab und verflüchtigte sich ins Nichts. Doch ist dies keine Garantie dafür, dass sich nicht andere, raffiniertere Anfälle von Nostalgie wiederholen werden. Und so, ganz unerwartet, begannen wir Eulen zu sammeln. Ich brachte sie aus jedem Land mit, das ich besuchte; die Sammlung wuchs immer weiter und besteht heute aus mehr als hundert Exemplaren. Warum gerade Eulen?, fragte ich mich später. Auf Russisch beginnen die Worte „sova“ (Eule) und „sowjetisch“ mit dem gleichen Buchstaben. Und da die Eule ein altes Symbol des Wissens und der Weisheit ist, drückte das Sammeln dieser Tiere die versteckte Hoffnung aus, dass es mit der Zeit möglich werden würde, den Zufall der Geburt in diesem Land in etwas Sinnvolleres und Bewussteres zu verwandeln.

Überdies beginnt man nach einigen Jahren Leben im Westen zu begreifen, dass die „Vorzüge des Sozialismus“ die uns die Staatsideologie so ungeschickt eintrichterte, wirklich existierten; dass wir über viel freie Zeit verfügten, was es erlaubte, sich mit auf den ersten Blick unnützen Dingen zu beschäftigen, die sich aber in der Folge als sehr angenehm erwiesen. Die Visuelle und die Leseerfahrung des sowjetischen Menschen wurde von der Zensur kontrolliert, doch auch dabei gab es einen andere Seite: Ich erinnere mich bis ins Detail an die Filme und Bücher, die ich „halb heimlich“ in dieser Zeit gesehen und gelesen habe. Sie besaßen die natürliche Anziehungskraft einer verbotenen Frucht, einer Aura, der immer die Freiheit fehlte, sich zu bewegen und Informationen aufzunehmen.

Die Mehrheit der Sowjetmenschen beweint einen gesunkenen Lebensstandard. Ich kann ihre Gefühle nicht teilen, gehöre ich doch zu der Minderheit deren Leben – immer noch schwierig gemessen an europäischen Standards – nach dem Zerfall der Sowjetunion in absoluten Zahlen ausgedrückt, nicht ärmer geworden ist.

Auch aus einem anderen Grund will ich nicht die Rückkehr zu Sowjetzeiten: Als Nichtparteimitglied, war ich der Bewegungsfreiheit beraubt. Wenn ich auch damals darüber nicht traurig war, so wäre jetzt die Rückkehr zum vorherigen Zustand für mich und viele, die von der verbotenen Frucht gekostet haben, ein wahres Drama.

Ich bin einverstanden, mich der Nostalgie angesichts der verlorenen Heimat hinzugeben, doch nur unter der Bedingung, dass eine Umkehr unmöglich ist; der definitive politische Tod der UdSSR ist die Quelle und die Voraussetzung für diese Nostalgie. Wenn jedoch ein Held auftauchte, der, wie im Märchen, einen Teil des „zerfallenen Bollwerks der ganzen progressiven Menscheit“ wieder mit Lebenselixier füllte, wäre ich bei weitem nicht der einzige, der die „New-USSR“ sofort verließe. Zum Glück ist eine solche Entwicklung der Ereignisse eher unwahrscheinlich. Die Wiederkehr der sowjetischen Hymne unter Putin wurde nur dadurch möglich, dass das alte Leben nach 15-jährigen Veränderungen in postmodernistischen Ausdrucksformen wieder erstanden ist – die eine Rückkehr definitiv unmöglich machen.

Dreißig Jahre lebe ich jetzt schon in Moskau, einer Stadt die sich vor allem in den Jahren der Stalin-Herrschaft so verändert hat, dass sie nicht mehr wieder zu erkennen ist. Täglich gehen neun Millionen Moskauer in die „Paläste für das Volk“, wie man einst die Stationen der Moskauer Metro taufte; Millionen kaufen auf dem Gelände der ehemaligen VDNCH[5]ein. Das Erscheinungsbild der Stadt wird von oben von sieben hohen Gebäuden bestimmt, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden. Die überwiegende Mehrheit der Menschen lebt in Wohnungen, die sie noch zu Sowjetzeiten erhielten. Mit anderen Worten, seit zehn Jahren gibt es die Sowjetunion als politisches Gebilde nicht mehr, doch die Menschen leben, arbeiten und bewegen sich auf den von ihr hinterlassenen Räumen, die natürlich altern, sich kommerzialisieren, restauriert werden, jedoch nicht verschwinden. Politisch tot, erinnert dieses Land täglich an sich, in den Zügen der Metro, den Pavillons der VDNCH, in der Universität.

Die Sowjetuniuon war das einzige totalitäre Regime, das einen vollen Zyklus der Entwicklung durchlaufen hat und wegen innerer Gründe zerfiel. Den Kriterien des Totalitären entsprach es in vollem Maße nur zu Zeiten Stalins. Mit Beginn der Sechzigerjahre entstand ein Regime, das zwar konservativ war, jedoch nicht zu Repressionen in größerem Maßstab greifen musste, relativ berechenbar war und vereinzelte Abweichungen vom Einheitsgedanken durchgehen ließ.

Kurz vor seinem Tod wurde es durch die Reformen Gorbatschows in der Periode von Perestroika und Glasnost modernisiert und, so schien es vielen, verfügte über ein bestimmtes Potenzial einer Entwicklung auf einer neuen, demokratischeren Grundlage.

Dennoch zerfiel die UdSSR. Was den Wohlstand anbelangt, so hat von diesem Zerfall niemand profitiert außer den baltischen Republiken. Alle anderen, die Initiatoren der Teilung eingeschlossen, Russland, die Ukraine, Weißrussland, machen schwere Zeiten durch. Die Freiheit auf dem exsowjetischen Raum, grenzt an einigen Orten an Anarchie. Ihre Segnungen können nur einige wenige nutzen.

Ich denke, dass sich zukünftige Historiker noch lange mit der Frage herumschlagen werden, aus welchen Gründen dieses Land so rasant zerfallen ist, das Land, das sich für ewig hielt. Möglich, dass die Regime, die man gemeinhin als totalitär bezeichnet, sich selbst zur Ewigkeit in eine Wechselbeziehung setzen, weil gerade sie viel brüchigere und starrere Gebilde sind. Demgegenüber existieren Regime, die sich niemals auf ihre „Ewigkeit“ berufen haben, historisch gesehen oft viel länger.

Und so gibt es das Land, in dem ich geboren wurde, schon zehn Jahre nicht mehr. Meine Geburtsstadt wurde von Leningrad in St. Petersburg umbenannt. Vor einigen Jahren tauschte ich meinen Reisepass um. Wie groß war mein Erstaunen, als ich sah, dass in der Spalte „Geburtsort“ St. Petersburg stand. Auf meine erstaunte Frage sagte der Beamte, dass jetzt alle gebürtigen Leningrader zu St. Petersburgern geworden seien, um Verwirrung zu vermeiden, wenn ein und dieselbe Stadt zwei Namen hätte. Das erinnerte mich an den Ausruf des Marquis de Custine[6]: „In Russland ist sogar die Geschichte eine innere Angelegenheit des Staates. Er bestimmt, was in der Vergangenheit war und was nicht.“ Als St. Petersburger fahre ich jetzt ins Ausland mit einem Pass, auf den das Wappen der UdSSR gedruckt ist. Eine schizophrene Situation: Ein Petersburger aus der UdSSR.

Das ist eine einfache Geschichte – viel mehr als eine Anekdote. So wie Stalin damals Trotzki und viele andere „Feinde des Volkes“ aus der Geschichte auslöschte und sie damit aufhörten eine Rolle in ihr zu spielen, so wird jetzt gegen die sowjetische Vergangenheit mit sowjetischen Methoden gekämpft: Man löscht sie einfach aus und tut so, als habe es sie nicht gegeben. Oder im Gegenteil, so wie es unter Putin Mode geworden ist: Man belebt ihre Attribute (zum Beispiel die Hymne) wieder, so als ob sich bis jetzt nichts geändert hätte (so wie während des Zweiten Weltkrieges alte Militärränge und Orden wieder eingeführt wurden). Das Vergangene wird entweder verdrängt und ignoriert oder als Trumpf im politischen Spiel eingesetzt; es schafft keine Distanz, von der aus man es gleichzeitig als seins annehmen und kritisieren könnte. Und das ist ein weiteres indirektes Zeugnis dafür, dass auf Russland seine sowjetische Vergangenheit lastet.

Der Prozess der Historisierung der sowjetischen Vergangenheit verspricht lange zu dauern, verglichen mit der Zeit der Existenz der UdSSR. Bislang ist dieser Prozess nicht abgeschlossen, der Tod dieses Landes bleibt eine politische Tatsache, die es noch zu verarbeiten gilt.

Der sowjetische Riese trat vor zehn Jahren ab. Doch wir dürfen uns nicht damit brüsten, dass wir die Logik seiner Entwicklung, seines Alterns und Zerfalls verstanden hätten. Mehr noch, die früheren Illusionen, die sich mit dem Ereignis und dem Ort seiner Geburt verbanden, behindern ein solches Verständnis. Die sowjetische Erfahrung bleibt das am wenigsten Durchdrungene von all dem, was in Europa im 20. Jahrhundert geschehen ist. Deshalb ist die Beerdigung noch nicht zu Ende, doch die Trauerzeremonie nimmt bisweilen exotische Formen an: Mal spricht man vom Ende der Geschichte, mal vom unvermeidlichen Konflikt der Zivilisationen (der Islam als neuer Antagonist des Westens), mal von der Globalisierung als Allheilmittel (oder, im Gegenteil, als Quelle allen Übels).

Kurz, mit dem Verschwinden der UdSSR und dem ihm vorausgegangenen Zerfall des „sozialistischen Lagers“ ist nicht einfach ein Land verschwunden – es ist eine Grenze verschwunden, die der europäischen Situation zumindest eine Sichtbarkeit, eine Denkbarkeit verliehen hat. Ohne Grenzen zu denken, haben wir noch nicht gelernt. Und eine neue Grenze zu ziehen, ohne damit kolossale Probleme zu erzeugen, scheint unmöglich, obwohl diese Versuche dauernd unternommen werden.

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