Gut ein halbes Jahr noch

„Na ja, plötzlich schließe ich die Augen, und dann haben Sie nichts“: Wie es ist, über was man sich unterhält, wenn man mit 83 Jahren in einem Krankenhaus liegt und auf einen Herzschrittmacher wartet. Ein nachbarschaftlicher Dialog am Krankenbett

Und dann habe ich jetzt einen neuen Bekannten, einen Steuerberater

von WOLFGANG W. TIMMLER

„Guten Tag.“ – „Ich komme raus. Ach, das ist aber schön, dass Sie mich besuchen. Schönen guten Tag.“ – „Und? Haben Sie Ihren Herzschrittmacher?“ – „Nein.“ – „Noch nicht? Und wann?“ – „Noch ein bisschen warten. Ach, schön, dass Sie da sind. Gehen wir hier rein? Im Besucherzimmer ist alles frei. Setzen wir uns da rein.“ – „Wo nehmen Sie Platz?“ – „Da.“ „Haben Sie eine neue Zimmernachbarin?“ – „Was haben Sie gesagt? Ich höre Sie gar nicht.“ – „Sie hören mich nicht?“ – Nein, ich höre Sie nicht.“ – „Hören Sie auf der Seite gar nichts mehr?“ – „Links gar nichts, nur rechts. Ich muss immer so suchen. Ich meine, ich höre schon manchmal. Es kommt immer drauf an.“ – „Dann muss ich mich hierhin setzen.“ – „Ach so, da haben Sie auch wieder Recht. Sehen Sie? Ich sitze wieder verkehrt.“ – „Nein, ich.“ – „Ja?“ – „Ich sitze verkehrt.“ – „Ja, hier höre ich Sie besser.“ – „Haben Sie eine neue Zimmernachbarin?“ – „Ja, eine neue. Die ist oben nicht ganz.“ – „Oh.“ – „Die andere ist Donnerstag nach Hause gegangen, und die kam Donnerstagabend rein. Die ist psychisch nicht in Ordnung. Jetzt redet sie schon mit mir. Ich habe sie angesprochen. Die hat ja lange nicht gesprochen, und jetzt weiß ich, die ist auch hier . . .“ – „Psychisch ein bisschen angeschlagen?“

„Ja, aber seit gestern redet sie. Ich habe sie angesprochen. Ich sagte zur ihr: ‚So geht es doch nicht weiter!‘ Na ja, ich habe mir gedacht, wirst sie mal ansprechen, vielleicht wird sie wieder ein bisschen. Das ist schrecklich, nicht? Die Blumenvase hier nehme ich weg. So kann ich Sie besser sehen. Alle Betten sind belegt auf der Station. Einer, nun, wann war das? Vorgestern. Da kamen die alle angerannt. Da hatten sie den Bypass schon weggebracht. Das ging ganz schnell. Und dann habe ich jetzt einen neuen Bekannten, einen Steuerberater. Der hat auch einen Bypass. Das wird unten am Bein rausgeholt. Wie alt ist der? Achtundsechzig. Wir gehen manchmal spazieren, aber der kriegt schlecht Luft. Wir gehen spazieren, den Flur rauf und runter. Sehr nett ist der. Und dann ist noch eine neue Patientin da, die hat, was hat die denn? Die ist operiert worden, nicht den Herzschrittmacher. Die hat was anderes gekriegt. Die ist noch jung. Fünfundvierzig Jahre. Die liegt ganz hinten. Und heute nacht ist eine Schwerkranke . . . aber ich schlafe durch. Ich nehme die Schlaftabletten nicht. Ich meine, sie wirken schon, aber wenn man mich nicht stört, schlafe ich durch. Und wie ist das Wetter? Ist es draußen sehr kalt?“

„Manchmal nasskalt, aber jetzt ist es wieder trocken.“ – „Steht das Haus noch?“ – „Heute hat mich Ihre Nachbarin gefragt, ob Sie schon zu Hause sind.“ – „Meine Nachbarin?“ – „Vom dritten Stock.“ – „Ach, das hätte die ja gemerkt. Haben Sie schon die Einkäufe erledigt? Alles schön aufgeschrieben, was Sie an Auslagen für mich haben.“ – „Wozu denn?“ – „Na ja, plötzlich schließe ich die Augen, und dann haben Sie nichts.“ – „So dürfen Sie nicht denken.“ – „Es liegt alles drin mit dreiundachtzig Jahren. Ich meine, man weiß es nicht. Man weiß es nicht, aber ich freue mich schon auf Montag, und vielleicht kriege ich am Sonntag noch Besuch. Am Donnerstag habe ich die Nachbarin von meiner Nichte angerufen, und die sagte: ‚Denken Sie mal, Ihre Nichte hat mir heute das Geld zurückgegeben.‘ Ich sagte: ‚Glauben Sie mir, morgen geht die sich schon wieder was borgen, bei Ihnen oder woanders.‘ Schrecklich, nicht wahr?“ – „Ist sie jetzt zu Hause? Ich dachte, sie wäre in der Klinik.“ – „Die ist schon lange wieder zu Hause und geht dauernd pumpen. Die kriegt das Geld ja zugeteilt, und dann kauft die sich im Kaufhaus solche Kinkerlitzchen, die sie nicht braucht. Und bei mir hat sie sich bis heute nicht gemeldet, obwohl die Nachbarin ihr eine Karte durchgesteckt hat, durch den Briefschlitz, dass ich im Krankenhaus bin. Die Nichte ist neunundvierzig. Ich bin ja auch dafür, dass man ihr nur kein Geld schenkt. Das bringt überhaupt nichts. Es ist schon schrecklich so was, aber sie kann ja auch nichts dafür.“

„Dann sind Sie aber froh, dass Sie nach Hause dürfen?“ – „Ich habe zu Schwester Sori gesagt: ‚Heiligabend komme ich Sie besuchen.‘ Es sind ja jeden Tag andere Schwestern hier. Schwester Sori ist heute drüben. Die hatte gestern freigehabt. Die war die ganze Woche im Spätdienst, und heute ist sie wieder auf der anderen Seite. Die war gut. Die war sehr, sehr korrekt. Manche gehen einfach drüber hinweg, und manche sind eben so wie Schwester Sori. Zu dem Küchenmenschen, der das Essen austeilt, zu dem sagte ich: ‚Sagen Sie mal, kann ich auch mal eine Scheibe Wurst kriegen?‘ Wann war denn das? Der kam sofort. Und genauso mit dem Ei. Heute habe ich auch eine Scheibe Wurst zusätzlich gekriegt. Die Zimmernachbarin hat ihre liegen lassen. Die kriegt ja auch Butter. Nun sagt sie: ‚Ich esse keine Butter.‘ Und dann hat sie mir die Butter gegeben. Jetzt habe ich im Schrank da eine ganze Vorratskammer mit Marmelade, Streichkäse, Butter.

An sich ist Frühstück reichlich und das Abendbrot auch, aber immer nur Graubrot. Ich sagte zu dem Küchenmenschen: ‚Sie könnten doch mal mit dem Brot wechseln.‘ Man muss die Leute ansprechen, nicht? Ich kriege auch jetzt eine Tasse Milch oder Buttermilch als zweites Frühstück. Mir genügt das ja. Ich trinke morgens, wie ich es gewohnt bin, meine zwei Tassen Kaffee, und wenn der Küchenmensch früher abräumt, dann sage ich zu ihm: ‚Ein bisschen später.‘ Dann macht der das auch. Es ist ja nicht sehr viel bei mir. Wissen Sie, an sich braucht man sich gar keine Wäsche mitzubringen. Man kriegt hier einen Bademantel, einen weißen. Ich meine, ich bin ja ganz unverhofft hier eingeliefert worden, aber es ist schön, dass Sie mir den Morgenrock gebracht haben, sonst hätte ich einen weißen Bademantel gekriegt. Ich finde, wenn man die eigene Wäsche anhat, ist es doch besser. Den Morgenrock muss ich dann gleich waschen. Ich habe ja noch einen grünen zu Hause, aber das Duschen, ach, das macht mir schon Spaß hier. Man kann sich so schön festhalten, und die Schwester kommt und tut einem den Rücken abreiben mit Kampferspiritus.

Ich habe jetzt ganz andere Medikamente. Die müssen mir für die Feiertage welche mitgeben. Für die Bronchien habe ich morgens zwei, mittags eine, abends eine, aber es sind ganz andere Medikamente. Und für das Herz habe ich noch was zu Hause. Ja, so wird man abgesetzt von Tabletten, aber ich muss ehrlich sagen, es hat sich alles gebessert. Erst habe ich gedacht, die Ausstrahlungen, das ist Rheuma, aber das ist jetzt weg. Im Rücken habe ich noch ein bisschen Schmerzen, aber die sind auch weniger geworden. Ich nehme sonst gar keine Medikamente mehr. Das Inhalieren behalte ich bei, dreimal am Tag. Das ist wichtig für mich. Und was sagte das Doktorchen letzthin: ‚Schön warm anziehen.‘ Ich friere ja nicht. Ich muss einen warmen Pullover anziehen, aber ich darf mich auch nicht einmummeln. Das ist auch wieder nichts. Ich muss mal gucken, ob ich im Schrank noch Winterschuhe habe oder nicht. Ich habe ja viele Sachen schon weggegeben, nicht? Warme Socken habe ich noch. Die habe ich mir rausgenommen und in den Nachttischkasten gelegt für den Fall, dass es kalt wird. Ich habe auch Bettschuhe, aber die brauche ich nun gar nicht.“

„Sie haben immer kaum was an.“ – „Wieso?“ – „Auch im Winter haben Sie ganz leichte Schuhe an.“ – „Das kommt darauf an. Wenn es nicht so kalt ist, friere ich ja nicht.“ – „Trotzdem ist es nicht gut.“ – „Aber ich werde es beherzigen. Hauptsache, man hat was auf dem Kopf. An den Füßen friere ich ja nicht. Ach, das wird schon wieder gehen. Wenn ich noch ein Jahr mache oder ein halbes, dann ist das angenehm.“ – „So dürfen Sie nicht reden.“ – „Ich habe mich gestern auch angezogen, meinen grünen Rock, den Sie mir gebracht haben, die lila Bluse und das Hemdchen und die Strickweste. Haben Sie Montag frei?“ – „Den halben Tag. Nachmittags muss ich wohin.“ – „Wie?“ – „Nachmittags habe ich nicht frei.“ – „Nachmittags müssen Sie arbeiten?“ – „Nein, nicht arbeiten.“ – „Wie?“ – „Aber vormittags bin ich da, und wenn Sie kommen, können Sie mich gleich anrufen.“ – „Ich rufe Sie an. Ich weiß nicht, ob ich hier esse oder nicht. Ich habe ja zu Hause Püreekartoffeln und ein Glas Rotkraut. Das reicht doch. Ich kann auch hier darauf verzichten.“ – „Etwas essen müssen Sie aber schon.“ „Na ja, wenn ich meine Papiere habe, dann kann ich gehen. Die andere Zimmernachbarin musste am Donnerstag ja warten. Ach, die war an sich nett gewesen, und die neue Zimmernachbarin habe ich mir jetzt auch schon gezogen. Jetzt spricht sie. Ich sagte: ‚Ist ja besser, wenn wir mal ein Wort wechseln.‘ Wenn man schon zusammenliegt und kein Wort spricht, dann ist es auch nicht gut. Und die anderen Patientin, die mit dem Herzklappenfehler, die geht am Mittwoch nach Hause. Die ist auch nett. Eine junge Frau, noch in den Vierzigern. Es ist doch interessant. Das kannte man früher gar nicht, Herzklappenfehler operieren. Es schreitet immer weiter vorwärts in der Medizin. Und im Café werden sie sich freuen, dass sie mich wiedersehen. Nun denken die vielleicht, ich könnte nicht mehr, auch wenn ich wollte. Ich habe heute schon das Geschirr abgeräumt, auch das von der Neuen. Ich betätige mich wieder. Das ist von den Schwestern auch nicht zu schaffen. Das sind ja über dreißig Betten.

Machen Sie auch ein Bäumchen zu Weihnachten? Nicht? Ich habe so einen künstlichen. Den habe ich schon so viele Jahre. Den ersetze ich nicht mehr. Ich finde ihn wunderschön, und da hänge ich alles ran, was ich so selbst gemacht habe. Ich habe auch zwei so elektrische, wie heißen die jetzt? Leuchter? Nein. Die sind so gewölbt mit elektrischen Kerzen drauf.“ –„Ich weiß, was Sie meinen.“ – „Einen stelle ich ans Fenster und den anderen auf den Fernseher.“ – „Da kommt ja mein Freund. Der hat heute Spätdienst. Der ist auch nett, der Stephan. Sehen Sie, manche Namen behalte ich im Kopf.“ – „Einen wunderschönen guten Tag.“ – „Guten Tag, Stephan.“ – „Guten Tag.“ – „Stephan, ich habe heute noch nicht inhaliert. Machst du mir mal Tropen rein, ja? Und mach gleich so viel, dass ich später noch mal kann. Der Apparat steht drinnen.“ – „Mach ich.“ – „Ich inhaliere dann auch gleich.“ –„Alles klar.“ – „Gut, danke. Der ist auch ein netter Kerl. Zivil. Die machen ja alle Zivil. Und gestern hat der Robert Spätdienst gehabt. Der Robert ist auch nett. Der hat so treue Augen. Ich habe Menschenkenntnisse. Und jetzt macht der Stephan meine Tropfen rein.“ – „Dann werde ich mal gehen. Bis Montag.“ – „Ja, bis Montag.“ – „Auf Wiedersehen.“ – „Ich rufe Sie an, wenn ich zu Hause bin.“ – „Gut, also dann . . .“ –„Ist der nicht nett, der Stephan?“ – „Die sind alle sehr nett.“ – „Wie?“ – „Die sind alle sehr freundlich.“

„Ich kann mich nicht beklagen. Nein, das wär eine Schande. Ob das die Ärzte sind oder die Schwestern, die sind alle nett zu mir, und die sagen auch immer, ich kann doch hierbleiben über die Feiertage, aber das ist doch sinnlos. Vorgestern sagte ich: ‚Doktor, bitte umstellen auf Tabletten.‘ Aber das machen die hier nicht. Ich lasse dann die Schwester kommen zum Spritzen. Sonst müsste ich noch länger hierbleiben. Ich gehe Montag gleich nach dem Frühstück. Wenn die Papiere fertig sind, weg bin ich.“ – „Also, dann bis Montag.“ –„Bis Montag. Auf Wiedersehen.“