Sprengt der Euro sein Korsett?

Wegen der deutschen Angst vor Inflation entstanden die Stabilitätskriterien. Sie engen den Spielraum für eine antizyklische Wirtschaftspolitik ein

von HERMANNUS PFEIFFER

Für Bundeskanzler Helmut Kohl war klar, beim Euro geht es um die Frage: Krieg oder Frieden? Und auch für Hilmar Kopper stellte sich 1998 diese existenzielle Alternative: Nur der Euro bedeute Frieden, meinte der erste Mann der Deutschen Bank damals. Die martialische Frage von Sein oder Nichtsein könnte sich trotz des neuen Bargelds bald wieder stellen, denn der Euro steht wirtschaftlich auf tönernen Füßen.

Vor lauter Freude über blindenfreundliche Münzen und fälschungssichere Scheine haben die 300 Millionen Eurobürger inzwischen den ökonomischen Kern der neuen Währung, die so genannten Maastricht-Kriterien, aus den Augen verloren. Die Geldmacher wollten nicht einfach möglichst viele Länder in ihre monetäre Union hineinpacken. Vielmehr sollte es eine stabile neue Währung geben, die mittelfristig dem US-Dollar die globale Führungsrolle streitig machen kann.

Um die nötige Stabilität zu sichern, legten die Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft bereits im Februar 1992 im Vertrag von Maastricht vier an sich sinnvolle Bedingungen fest, die sogenannten „Konvergenzkriterien“ (Konvergenz = Übereinstimmung). Diese Kriterien zielen auf geringe Staatsschulden, niedrige Zinssätze, stabile Wechselkurse und sollen vor allem die Preise im Zaum halten.

Das oberste Eurogebot lautet daher: keine Inflation. Steigen die Preise jährlich um mehr als zwei Prozent, gilt dies als Inflation, und die Europäische Zentralbank (EZB) muss reagieren.

Das zweitwichtigste Gebot betrifft die Schulden. Die staatliche Neuverschuldung soll maximal drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen, der gesamte öffentliche Schuldenstand eines Landes maximal 60 Prozent des BIP erreichen.

Das dritte Kriterium verlangte eine Senkung der wichtigen Zinssätze in den Beitrittsländern.

Im vierten Kriterium ging es um die Wechselkurse. Voraussetzung für den Euro war eine zuvor erfolgreiche Teilnahme am engen Europäischen Währungssystem (EWS).

Am maßgeblichen Eurostichtag, dem 31. Dezember 1998, hatten die elf teilnehmenden Länder, später kam noch Griechenland hinzu, die vier Maastricht-Kriterien einigermaßen erfüllt. Dazu hatten unter anderem ein Privatisierungsboom beigetragen und ein rigider Sparkurs auf Kosten der sozial schwachen Bevölkerung.

Hinzu kamen statistische Schummeleien: So wurden die milliardenschweren Schulden der staatlichen Krankenhäuser europaweit aus den öffentlichen Defiziten herausgerechnet. In den damals geschönten Staatsbilanzen verbirgt sich heute noch manche fiskalische Zeitbombe.

Die vier Konvergenzkriterien können als „deutsche Kriterien“ gelten. Denn für die Deutschen sind traditionell „solide“ Haushaltsführung und Preisstabilität besonders wichtig. Andere politisch nahe liegende Konditionen für die Währungsunion – beispielsweise soziale oder technologische Standards – wurden von den Regierungen und Parlamenten nicht gefordert.

Um auch zukünftig die Einhaltung der Normen zu sichern, schlossen die Regierungschefs 1999 in Dublin einen so genannten Stabilitätspakt, der einen Strafenkatalog bei Euroverfehlungen festschrieb. Dieser Stabilitätspakt dürfte demnächst auf eine harte Probe gestellt werden.

Trotz mehrerer fetter Jahre tat sich die EU schon vor dem Start des frischen Bargeldes mit ihren Maastricht-Kriterien schwer. So liegen in vielen Ländern die Preissteigerungsraten über der maximalen Marke von zwei Prozent oder sind die Schuldenberge in Italien, Belgien und Griechenland viel zu hoch.

Gezweifelt werden muss aber auch an den Kriterien selbst. Besonders die enge Inflationsmarke ist unter Wissenschaftlern umstritten. Allein der Preisanstieg des Erdöls ließ 2000 die Teuerungsrate in die Höhe schießen. Woraufhin die EZB ein halbes Dutzend Mal die Leitzinsen anhob und damit für 2001 Investitionen und Nachfrage abwürgte. Um die Konjunktur durch niedrige Leitzinsen anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen, wäre wohl eine Zielmarke von drei oder gar fünf Prozent „Inflation“ in Kauf zu nehmen. Auch die Grenzwerte für die Staatsschulden wurden nicht nur willkürlich, sondern auch unnötig eng und starr gezogen. Beispielsweise ist eine Staatsschuld von 60 Prozent des BIP eine Grenze, die selbst von den USA überboten würde. Japans Staatsschuld ist sogar doppelt so hoch, während etwa Argentinien einen deutliche geringeren Schuldenberg hat und trotzdem pleite ist.

Wenn sich ein Eurostaat selbst in der zu erwartenden wirtschaftlichen Krise des Jahres 2002 nur mit drei Prozent neu verschulden darf – ein Wert, der selbst in der wirtschaftlichen Blüte nur mit Ach und Krach eingehalten werden konnte –, ist der Spielraum für eine antizyklische Wirtschaftspolitik nicht vorhanden. Eine Rezession ist jedoch nicht zu bekämpfen, wenn die Staaten aufgrund der Eurokriterien sparen müssen.

Die Stabilitätskriterien engen also den politischen Spielraum der Politiker ein. Wenn die Europäische Union jedoch ein „Leuchtfeuer für die Welt“ sein will, wie es in der unverkennbar antiamerikanischen Erklärung des EU-Gipfels von Laeken Mitte Dezember heißt, sollte sie die Maastricht-Kriterien modernisieren, und sei es nur, um durch wirtschaftliches Wachstum den globalen Frieden zu sichern.