: Sag mir, wo die Ökos sind
Heute sieben sie die Erde auf ihrer Dachterrasse lieber allein: Kreuzberg funktioniert und das ist etwas Besonderes. Dennoch gibt es dort viele ehemalige Hausbesetzer, die zu Hausbesitzern mutiert sind, frustrierte Exalternative, die ihn verpasst haben, den Run auf okaye Kapitalismusteilnehmerplätze
von JOSEPH MARTI
In letzter Zeit sind gleich zwei Bücher erschienen, die das Kreuzberg der 80er-Jahre zum Thema haben, „Herr Lehmann“ vom Element-of-Crime-Sänger Sven Regener und das „Kreuzbergbuch“ mit Kurzgeschichten der Szenezeitzeugen. Warum ist das Interesse an Kreuzberg im Augenblick so groß?
Weil die Leute, die dort ihre wichtigste Zeit gehabt haben, nun in dem Alter sind, um darüber zu schreiben? Weil gerade ein kreatives Vakuum herrscht, in dem jeder nur zu warten scheint, wo denn nun endlich eine neue Keimzelle, ein neuer Melting Pot of irgendwas Tollem entstehen wird? Eine verspätete Reaktion von „Westdeutschland-Berlinern“ auf die Ostalgie? Oder die Heraufbeschwörung von guten alten Feindbildzeiten angesichts der allgemeinen Jetzt-müssen-wir-Hauptstadt-spielen-Resignation? Wird schon alles dabei sein. Kreuzberg macht ja auch immer noch viel her, im Vergleich zu etwa Charlottenburg, was vor der legendären Rauchhaus-Besetzung von Ton Steine Scherben Anfang der 70er der szenebeschlagnahmte Stadtteil gewesen war.
Das legendäre „SO 36“ gibt es immer noch und hält sich sowohl mit Hardcore-Konzerten als auch mit Gay-Dance-Nights wacker, der Einzelhandel mit HipHop-Klamotten, Schwarzwälder Spezialitäten, linken Antiquariaten und türkischem Tingeltangel-Import-Export läuft gut, die Schaufenster der Blindenanstalt, des Pferdewettbüros und des türkischen Kaufhauses „Ades“ bleiben unübertroffen. Die Türken fühlen sich angesichts des frostigen Ostwinds fast heimisch, und die Punkläden, Schwulenbars und Abhängcafés bleiben, obwohl sie nicht in Touristenführern stehen. Der Kiez funktioniert, und das ist etwas Besonderes.
Nach kurzen Irritationen durch die Mitte-Hysterie, die man stoisch überstanden hat, kann man wieder stolz darauf sein, in Kreuzberg zu wohnen. Noch wagt sich kein neuer Szeneclub so richtig dahin, aber immer häufiger findet man bei den studentischen Wohnwunschzettelanschlägen am schwarzen Brett bei den Bezirkswünschen neben Mitte und Prenzlauer Berg auch Kreuzberg. Und wie sieht es denn nun bei den bereits erwähnten „Westdeutschland-Kreuzbergern“ aus, also denjenigen, die einst auszogen aus ihrer spießigen Kleinstadt, um hier auszubrechen und endlich die Dinge zu tun, vor denen ihre Eltern sie gewarnt hatten? Die Kreuzberg zu dem Ruf verholfen haben, den es heute hat, die Hausbesetzer, Punks und Ökos?
Sie sind älter geworden. Die meisten haben doch noch auf den letzten Drücker Kinder gekriegt und mehr oder weniger feste Jobs bekommen, gerne in der Medienbranche als Journalisten, Label-, Filmproduktionsbüro- und Clubbetreiber. Nirgendwo kann man besser im hohen Alter ein Bohèmeleben führen als in Kreuzberg, wobei hier exzentrische Mittellosigkeit und Sozi-Schnorrertum leicht verwechselt werden können. Gleichzeitig wird das Bohèmeleben auch nirgends misstrauischer beäugt als in Kreuzberg, weil es das eigene Versagertum widerspiegelt oder die panisch zusammengestoppelte späte Karriere in Frage stellt. Besser kommt man damit an bei der jüngeren Generation, die sich ein temporäres Bohèmeleben mit Bafög oder Elternzuwendungen zwar leisten könnte, der es aber an den inneren Voraussetzungen eines gesellschaftlichen Außenseiterdaseins mangelt.
Dann gibt es da aber auch noch die Spezies der radikalen Verweigerer, die zu radikalen Spießern mutiert sind. Spießer, das gibt es ja gar nicht mehr, möchte man meinen. Aber wenn es sie noch gibt, dann in Form von frustrierten Altlinken oder, die softere Variante, Exalternativen, die sich geprellt fühlen um die Zeit und Energie, die sie dermaleinst eingesetzt hatten, um neue Lebensformen durchzusetzen und denen genau diese Zeit und Energie jetzt fehlt im Run um Rang und okaye Kapitalismusteilnehmerplätze. „Die Punks von heute sind die Spießer von morgen“ wurde schon zu besten Klospruchzeiten geunkt.
Dazu gibt es Beispiele, die so krass exemplarisch sind, dass sie in jedem Film über „Konjunktur und Niedergang von gesellschaftspolitischem Idealismus“ als Klischees abgelehnt würden. Ich erinnere mich an eine Sommer-Mittwochsbar in einem Hinterhof der Dresdner Straße mit einer Wellblechbar, natürlich illegal. „Aber hier wohnen nur Altpunks“, meinte die Betreiberin, die da auch wohnte, zuversichtlich. Ein Altpunk war es dann auch, der am dritten Mittwoch sturzbetrunken nach Hause kam, wortlos den Hinterhof durchquerte und dann von seinem Fenster aus mit einer Schreckschusspistole auf den Hof feuerte, bevor er alle weiteren Fenster aufriss und in ohrenbetäubender Lautstärke die Ramones laufen ließ. Das alles hätte die Mittwochsbar nicht gekippt, die Ramones sind ja auch toll – nur leider war das nächste Mal die Wellblechkonstruktion zusammengehauen. Hätte er mal lieber die Bullen geholt, dachte ich, das hätte die Bar länger erhalten.
Oder die Sache mit den Hausbesetzern, die zu Hausbesitzern wurden: auch zu aphoristisch, um wahr zu sein, und doch geschehen in der Luckauer Straße. Eine Hausgemeinschaft von ehemaligen Hausbesetzern wollte das ganze Haus kaufen. In einer Etage wohnte eine befreundete Mieterin, die sich schon immer die Plenumssitzungen geschwänzt, die daraus resultierenden Kollektivbeschlüsse der ehemaligen Systemverweigerer ignoriert hatte. Sie wollte ihre Etage kaufen. Die Hausgemeinschaft aber wollten schön unter sich bleiben, die Erde auf ihrer Dachterrasse allein sieben und legte ihr so viele Steine und Rechtsanwälte in den Weg, dass sie irgendwann aufgab und nur noch weiterhin als Mieterin darin wohnen wollte. Aber dann hatte sie auch noch die Stirn, einem Sat.1-Fernsehteam einen Nachtdreh in ihren Räumen zu genehmigen.
Der Eklat war vorprogrammiert und mit der höflichen Ankündigung des Produktionsbüros, dass die Parkplätze vor dem Haus am betreffenden Tag für das Filmteam reserviert seien, brach offene Feindschaft aus. „WIR, die Hausbewohner der Luckauer Straße wollen damit NICHTS zu tun haben“, hieß es auf einem mit wütendem Kuli bekritzelten Zettel, der am nächsten Tag im Hausflur hing. Die Drehnacht war ein Desaster. Von der begrünten Dachterrasse aus wurde ein dicker Stein geworfen – wohl in der hehren Absicht, nur die Außenbeleuchtung des Filmteams zu treffen. Buttersäure traf eine Praktikantin. Knaller sollten den Originalton stören, und die Polizei wurde gerufen, die unverrichteter Dinge wieder abziehen musste, nachdem sie die Drehgenehmigung gesehen hatte.
Der Aufnahmeleiter konstatierte lakonisch: „Das ist typisch. Wenn wir Außenaufnahmen haben, bei denen ein Teil des Gehwegs gesperrt wird, und ich die Fußgänger bitten muss, die Seite zu wechseln, passiert es immer nur in Kreuzberg, dass sich Leute vor mir aufpflanzen und sagen: „Und was habe ich davon? Nö!“
Am Abend des Vertragsabschlusses des Kollektivs mit der Wohnungsbaugesellschaft über den Kauf des gesamten Hauses war die Wohnungstürklinke der ungeliebten Mieterin mit Scheiße beschmiert.
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