: Hilfe mit dem „fliegenden Fuchs“
Wie Lebensmittelhilfe in die abgeschiedenen Gebiete Nordafghanistans kommt. Warum sie im Winter nicht kommt. Und warum sie gebraucht wird
aus Faisabad MELINDA YOUNG
Wir arbeiten in Schahr-e-Busurg, dem westlichsten Bezirk der Provinz Badakschan im Nordosten von Afghanistan an der Grenze zu Tadschikistan. Es ist eine sehr wilde und abgeschiedene Gegend. Die Menschen haben nicht genug zu essen. Sie ernten nur, was sie säen, oftmals weniger. Die Kinder sammelten Gras, das mit ein wenig Mehl zum Essen gemischt wurde. Dieses Gras wiederum fehlte als Futter für die Rinder. Viele mussten ihre Tiere verkaufen. Selbst in guten Zeiten ist dies eine Hungergegend. Früher wuschen die Leute hier auch Gold, um ein wenig Geld zu verdienen, aber seit der Dürre wird kein Gold mehr in die Flüsse geschwemmt.
Wir haben versucht, alle Nahrungsmittel bis zum Ende der ersten Dezemberwoche zu verteilen, weil man danach kaum noch durchkommt. Der Weg führt über eine Straße, die die örtliche Bevölkerung gebaut hat; wir stellten dafür Nahrungsmittel im Rahmen eines Aufbauprogramms (food for asset creation scheme) zur Verfügung. Die Straße ist 40 Kilometer lang. Durch den Bau konnten 1.500 Familien, rund 10.000 Menschen, erreicht werden. Aber durch Regen und Schnee ist die Straße jetzt unpassierbar.
Oxfam hat acht Pferde, mit denen wir uns fortbewegen. Natürlich haben wir auch Fahrzeuge, aber im Winter können wir sie kaum benutzen. Die Leute hier fragen uns, warum wir nicht mit Schneeräumgerät kommen. Aber man kann die Geräte nicht über die Berge bringen. Außerdem gibt es, wenn geräumt ist, nur noch Matsch und Schlaglöcher. Man kann nur über die Straße zu unserer Ausgabestelle gelangen.
Die Nahrungsmittelausgabe funktioniert so: Das Welternährungsprogramm liefert uns den Weizen an einen Ort namens Qochi, der auf der anderen Seite des Flusses liegt. Deshalb müssen wir einen Mann bezahlen, der aus Schrott eine Art Seilbahn über den Fluss gebaut hat. Die Weizensäcke werden einer nach dem anderen über den Fluss gezogen, den ganzen Tag. Auch Menschen überqueren den Fluss so. Manchmal, wenn die Seilbahn – sie wird „fliegender Fuchs“ genannt – nicht funktioniert, muss man den Fluss mit einem Floß aus aufgeblasenen Tierhäuten überqueren, durch die Stromschnellen.
Über Funk senden wir die Nachricht an unser Büro in der Stadt Schahr-e-Busurg, dass eine Lieferung angekommen ist. Unsere Mitarbeiter reiten los und teilen es den örtlichen Kommandeuren mit, und die informieren die Bevölkerung über Funk. Dann kommen die Menschen aus den Dörfern hinunter zur Oxfam-Ausgabestelle. Die meisten besitzen nicht einmal einen Esel, sie kommen zu Fuß. Kommen sie von Norden, dauert das ungefähr zwei Tage. Es gibt immer wieder Berichte über Todesfälle unterwegs, sogar im Sommer. Die schmalen Pfade auf dünner Geröllschicht verlaufen oberhalb tiefer Schluchten. Wenn es eisglatt ist, wie jetzt, ist es noch gefährlicher.
Wenn sie hier ankommen, registrieren wir sie per Fingerabdruck. Wir haben eine Liste und eine Vertrauensperson aus ihrem Dorf, die bestätigt, dass die Personen auch wirklich die sind, die sie angeben zu sein.
Einige haben einen Esel, der einen Sack tragen kann – die Weizensäcke wiegen je 50 Kilogramm. Die meisten Menschen tragen aber sie auf ihrem Rücken nach Hause. Jede Familie bekommt vier oder fünf Säcke. Deshalb müssen oft Säcke zurückgelassen werden, von den Kindern bewacht, während die Erwachsenen einen oder zwei nach Hause tragen. Danach kehren sie zurück, um den Rest zu holen. Das bedeutet: Zwei Tage runter, zwei Tage rauf, zwei Tage runter, zwei Tage rauf. Wir verteilen an über 4.000 Familien, etwa 30.000 Personen. Das sind 80 Prozent der Einwohner von 63 Dörfern. Später reiten unsere Mitarbeiter in die Dörfer, wo sie stichprobenartig kontrollieren, ob auch die richtigen Leute die Nahrungsmittel bekommen haben. Oxfam hat hier 35 Mitarbeiter. Es ist ein ziemliches Nomadenleben.
Die Menschen in dieser isolierten Gegend sind in einer verzweifelten Lage. Das kann auch für unsere Mitarbeiter gefährlich werden. Manchmal werden sie bedroht und Leute versuchen, Nahrungsmittel zu stehlen. Normalerweise können wir solche Probleme mit Unterstützung der örtlichen Gemeinschaften und ihren Führern lösen. Es ist schon vorgekommen, dass unsere Mitarbeiter verletzt wurden. Dann beenden wir unsere Arbeit in dem Gebiet und erklären den Führern, dass wir unter solchen Bedingungen nicht arbeiten können.
Bis zum 14. Dezember konnten wir Nahrungsmittel verteilen, danach gab es Sicherheitsprobleme. Jetzt gibt es bis Ende März kein Durchkommen mehr. Aber ich glaube, dass wir es geschafft haben, genug zu verteilen, dass die Menschen den Winter überleben.
Die Menschen hier sind froh über die neue Regierung und hoffen, dass sie in diesem Gebiet mehr Einfluss ausüben wird. Aber niemand in dieser Regierung kommt aus Badakschan, das schon immer in Gefahr war, isoliert und vergessen zu werden. Vielleicht haben sie doch wieder kein Glück.
Die Autorin ist Mitarbeiterin der internationalen Hilfsorganisation Oxfam, für die sie den hier gekürzt veröffentlichten Text verfasste.
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