: Chinas langer Marsch zur sexuellen Revolution
In Schanghai hat ein 69-jähriger Soziologe mit der Neueröffnung eines Sexmuseums für die chinesische Jugend einen Tempel der Aufklärung errichtet
SCHANGHAI taz ■ Gruppensex in China vor 300 Jahren? Zhumei kann es kaum fassen. Die etwas verblasste erotische Malerei vor ihren Augen beweist es aber. Dabei sieht die 23-jährige Bankerin aus Schanghai gar nicht weltfremd aus. Und auch nicht prüde in dem engen Minikleid mit den dünnen Spaghettiträgern, das sie beim Besuch in Chinas einzigem Sexmuseum trägt. Zhumei steht einfach nur für all die jungen Menschen in China, die sich auf die Suche nach ihrer eigenen Sexualität aufgemacht haben und dabei gefangen sind zwischen Tradition und Moderne.
In Schanghai aber gibt es jemanden, der ihr zur Seite steht. Denn hier hat Liu Dalin sein Sexmuseum eröffnet. Der 69-jährige Dozent an der Schanghaier Universität trägt eine dicke Hornbrille. Ein zerstreuter Professor, ein Erotomane gar, ist er jedoch nicht. Der Mann hat ein ernstes Anliegen: die Entmystifizierung des Geschlechtsakts und der Erotik in China. Für alle Zhumeis und ihre qingren, so heißt Liebhaber auf Chinesisch.
Angefangen habe alles mit einem Tick, erklärt der Sexologe. Nachdem er bereits Ende der 80er-Jahre unzählige erotische Liebhaberstücke aus dem Land der Mitte gesammelt hatte, platzte seine Wohnung aus allen Nähten. Die Idee von einem Sexmuseum entstand. Doch erst nachdem die Exponate als Wanderaustellung ein Erfolg wurden, erhielt Liu die Lizenz für ein Museum. In einem Bürogebäude untergebracht, ohne Erlaubnis für ein Hinweisschild, blieben die Besucher zunächst aus.
Im September ist Liu mit dem erotischen Museum umgezogen. Für den Neustart hat er sein Privatvermögen aufgebraucht. In goldenen Schriftzeichen steht jetzt hinter der gläsernen Eingangstür geschrieben: „Museum für Alte Chinesische Sexkultur“.
Spektakulär an diesem Museum ist nicht nur das Durchhaltevermögen seines Gründers. Auch die Ausstellungstücke sind bemerkenswert. Etwa ein 5.000 Jahre alter Steinpenis, der vermutlich älteste Phallusfund weltweit. Der lässt auch Zhumei nicht kalt: „5.000 Jahre, so alt wie unsere Kultur!“, sagt sie erstaunt. Oder aber „Aussteuermalereien“ aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die eindeutigen Abbildungen sollten dem in einer Gesellschaft mit restriktiver Sexualmoral aufgewachsenen Paar als Vorlage in der Hochzeitsnacht dienen.
Dabei war China nicht immer so prüde. Der Daoismus, chinesische Philosophie und Volksreligion, suchte schon vor 2.000 Jahren nach lebensverlängernden Sexpraktiken.
Erst ab der Songzeit (960–1279) setzte eine immer stärker werdende von oben verordnete Prüderie ein. Trotzdem hat auch China seinen Casanova. Der heißt Xi Menqing. Aber selbst der Klassiker Jinpingmei aus dem 16. Jahrhundert, eine saftige Schilderung seiner sexuellen Eskapaden, ist bis heute nur zensiert erhältlich.
Die Kommunisten befreiten China vom Feudalismus. Die sexuelle Befreiung blieb aber aus. Händchen haltend und verliebt im Park zu spazieren, wurde unter Mao zur dekadenten Untat stilisiert. „Im Westen gab es die Sexuelle Revolution, in China gab es zur gleichen Zeit die Kulturrevolution“, versucht Liu einen Kulturvergleich. „Erst seit den Reformen der 80er-Jahre verändert sich China rasend schnell. Die Auflockerung der Sexualmoral kann mit diesem Tempo aber nicht mithalten.“
Zhumei bestätigt das: „Einen nackten Mann habe ich zum ersten Mal in einem wissenschaftlichen Film gesehen“, erinnert sie sich an den Sexualkundeunterricht in der Schule. „Das war in der Oberstufe. Sex, Verhütung, kam darin nicht vor.“ Zwar steht Aufklärung heute auf dem chinesischen Stundenplan der Mittelstufe, für viele Lehrer ist das Thema aber unanständig. „Hunden muss man doch auch nicht beibringen, wie man es macht“, zitiert Liu in einem seiner Werke einen Schuldirektor.
Der Sexprofessor gab dennoch nie auf. Er fühlt sich für die junge Generation verantwortlich, die sich heute öffentlich knutschend aus dem sexuellen Erbe ihrer Eltern windet. „Sex ist natürlich, Sex ist gesund!“, lautet seine Botschaft. Sein Institut habe 1999 zusammen mit dem UN-Bevölkerungsprogramm daran gearbeitet, in Pekings Universitätsviertel Kondomautomaten aufzustellen. Viele Unidirektoren hätten sich jedoch zunächst geweigert, diese auf dem Campus aufstellen zu lassen.
Indes boomt die Doppelmoral. Während sich die Aufregung um Dildos und Gummipuppen aus den überall präsenten Sexshops immer wieder breit macht, florieren die Prostitution und der Verkauf verbotener Pornofilme aus dem Westen. Die jungen Menschen aber werden mit ihrer neu entdeckten Lust alleine gelassen. „Was soll ich tun, wenn meine Freundin keine Jungfrau mehr ist?“, fragen sich ernsthaft ratlose junge Männer im Internet. Die Kondomautomaten, die mit Lius Hilfe aufgestellt wurden und deren Anzahl in Peking inzwischen auf 500 aufgestockt wurde, gehören zwar inzwischen zur Grundausstattung jeder Uni. Doch laut Zeitungsumfragen will sie angeblich kaum ein Student nutzen.
Es scheint, als würde sich ein Besuch im Sexmuseum gerade für junge Frauen wie Zhumei lohnen. Denn sie sind es, die Opfer der verschleppten sexuellen Revolution in China werden könnten. Der Grund der hohen Abtreibungsrate bei jungen Frauen ist heute nicht nur in der Einkindpolitik zu suchen. Mangelnde Aufklärung und altes Schamgefühl führen dazu, dass zum Beispiel die Pille immer noch ein Ladenhüter ist, obwohl sie billig und rezeptfrei im Supermarkt erhältlich ist. Erst kürzlich wurde das Verbot der Heirat von Studenten aufgehoben. Doch viele Eltern reagierten empört. Für Liu Dalin gibt es noch viel zu tun. ASTRID MAIER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen