„Erschrecken Sie nicht!“

Stephan, 39, ist Bettler. Und Wanderprediger im Berliner U-Bahn-Netz.Er wiegt nicht einmal dreißig Kilo, will weder Mann noch Frau sein. Ein Porträt

von SONJA SCHWÄR

Wenn Stephan in den U-Bahn-Wagen tritt, zieht er alle Blicke auf sich. Er ist abgemagert bis auf das Skelett. Kinder schauen mit offenen Mündern; auch die Eltern sind sprachlos. Er steht direkt vor der Waggontür, als eine ältere, grau melierte Dame hereinkommt und ihm laut mitten ins Gesicht sagt: „Die lebt ja immer noch!“ Stephan erwidert für zehn Sekunden kein Wort. Was bei seiner Schlagfertigkeit eine lange Zeit ist. „Warum leben Sie denn noch?“, fragt er schließlich.

Vermutlich wiegt seine ärmellose, voll bepackte Jacke mehr als er selbst – keine dreißig Kilogramm. Der 39-jährige Berliner, den viele für eine Frau halten, findet die Frage nach seinem Gewicht völlig uninteressant. Schaumstoffstücke hat er sich vor Knie und Ellenbogen gebunden, um die besonders empfindlichen Gelenke zu schützen.

„Darf ich auch hier die Neueinsteiger mindestens um sieben Pfennige bitten – für Selbstgeschriebenes“, sagt Stephan mit hoher Stimme und lehnt seine Krücke an die Waggontür. Die Knochen der Arme zeichnen sich deutlich durch die Haut ab. Unter der zu großen Mütze verschwindet das kleine Gesicht, die Wangen treten spitz hervor. Der Zug saust durch den Tunnel, hier und da fällt eine Münze in den Plastikbecher.

Stephan verteilt seine Texte auf sorgfältig gefalteten Blättern. Sie sind mit Wortspielen und kleinen Zeichnungen gespickt. Jede neue Folge erscheint in einer anderen Farbe. „Ich bin nicht der Messias, höchstens als Messie ein Ass“, steht da in der ersten Ausgabe. Mittlerweile gibt es schon die vierte: „Sie sehen, mein Leich-Tum und mein Leicht-Tum sind unermesslich.“ Und: „Wenn man bedenkt, dass eines der typischen Zeichen der rein seelischen Erkrankung Magersucht die Fixierung auf Äußerlichkeiten ist, bin ich wahrscheinlich schon immer fettsüchtig gewesen.“ Dass er seine Gedanken auf Papier bringen, also tippen und kopieren kann, hat mit Pastoralreferent und Sozialarbeiter Hans-Joachim Ditz von der katholischen Kirche St. Michael in Kreuzberg zu tun. Hier kann er Hard- und Software der Gemeinde nutzen.

Vor ungefähr zwei Jahren hat alles angefangen. Seither treffen sich die beiden, soweit es geht, jede zweite Woche im U-Bahnhof. Ditz bringt dann ein Fahrrad mit, auf dem Stephan zur Pfarrei radelt, während der Seelsorger nebenherläuft. Denn Gehen ist anstrengend und kostet mehr Energie als Radfahren. „Die Pfarrei ermöglicht es mir, farbige Kopien zum Preis von schwarzweißen zu machen.“ Für eine Kopie bezahlt Stephan sieben Pfennige.

„Die sind so schlau bei der Kirche“, erklärt Stephan, „die wissen genau, kein Mensch braucht gute Ratschläge!“ Davon fühle man sich nur gerädert. Und Ratschläge seien immer auch Schläge. In der Pfarrei steht dann eben eine Suppe, und „keiner macht eine dumme Bemerkung“. Nicht, dass es ihm um die Suppe geht, das Wichtigste sind seine Texte. Viel zu schnell vergehen die zwei, drei Stunden, die er mit Ditz am Computer sitzt, um die passenden Worte zu finden. Immer wieder werden die Ausgaben überarbeitet, ein Wort durch ein anderes ersetzt. Stephan entwickele die Ideen, betont Ditz, er selbst sei eine Art Geburtshelfer oder besserer Sekretär: „Manches ist sehr um die Ecke gedacht – mit unglaublichem Aberwitz.“

„Ich nehme auch den Groschen, der da auf dem Boden unter der Bank zu Ihren Füßen liegt“, sagt Stephan der gepflegten, rundlichen Mitfünfzigerin, die kein Kleingeld bei sich hat. Die Dame legt die weißen Papiertüten zur Seite, beugt sich nach unten, tastet mit den Fingern nach der Münze, kann sie nicht fassen, dreht sich halb und wirft mit leicht errötetem Gesicht das Fundstück schließlich in den Plastikbecher. „Gottes Segen“, bedankt sich Stephan. Die Dame lächelt.

Mit vierzehn Jahren hat Stephan angefangen, von Müll zu leben. Damals erzählten die Verwandten, sie hätten wieder einmal seine dünnen Beine bei Bolle aus der Mülltonne rausgucken sehen. Von da an hat er fünfzehn Jahre lang Mülltonnen abgeklappert, und schließlich ist das Betteln hinzugekommen. Wie kommt jemand dazu, in die Mülltonnen zu gehen? „Ich hatte Hunger und kein Geld. Und wo gibt es Lebensmittel umsonst?“, stellt Stephan ruhig die Gegenfrage. Früher gab es am Adenauerplatz einen Edeka-Laden, der habe angetaute Tiefkühlkost weggeschmissen: „Ich habe tiefgekühlten Hummer gegen Heißhunger gegessen.“

Das Betteln ist heute häufiger und das Mülltonnenabklappern seltener geworden. Dass er jemals ein Bettler sein könnte, das war ihm früher nie so bewusst: „Ich kam aus relativ gutem Hause, relativ geordneten Verhältnissen. Also, auf so ’ne Idee wäre ich nie gekommen.“ Das Betteln sei ihm irgendwie peinlich gewesen. Das Mülltonnenabklappern, das könne man heimlich machen, aber das Betteln, das sehe ja jeder. „Ich bin nicht nur Bettler, sondern auch Wanderprediger und renne mit einem Jodeldiplom durch die U-Bahn.“ Das halte er manchmal länger, manchmal kürzer aus, aber irgendwann möchte auch er niemanden um sich haben. Dann zieht er sich in seine Wohnung zurück, ruht sich aus, schaut fern oder überarbeitet seine Texte und freut sich auf das nächste Treffen mit Ditz in der Pfarrei. Meistens ist er ruhelos, das Warten fällt ihm schwer.

Die Frage, ob er an einer Krankheit leide, findet er abwegig: „Wenn ich nicht sehr gesund wäre, wie hätte ich dann in meinem Zustand überleben sollen?“ Schnell verlässt er den Waggon, schiebt sich durch die Menschenmenge und geht gleich wieder in den nächsten: „Wenn ich an etwas leide, dann an der Dummheit und Bösartigkeit der U-Bahn-Reisenden.“ Verdauungsprobleme und Essstörungen kommen dazu. „Außerdem habe ich eine Vorschriften-und-Autoritäten-Allergie. Mir fehlt von Geburt an das Anpassungsgen.“

Mit ungeheurer Energie schleppt Stephan die vielen kleinen Groschen und seine Manuskripte in Plastiktüten durch die U-Bahn. Bei einem Kioskbesitzer kann er die schwere Last zwischenlagern. „Manche alten Leute erzählen dummes Zeug über mich.“ Dass er einen auf Krücke mache, die Krücke aber gar nicht wirklich brauche. Tatsächlich dient sie ihm auch als Sitzgelegenheit. Oder sie werfen ihm vor, wenn er eine angebotene Tafel Schokolade, eine angedetschte Tomate oder gar ein verschimmeltes Stück Kuchen zurückweist: „Ach ja, SIE wollen ja nur Geld!“ Das seien meist dumme Alte, die kein eigenes echtes Leben mehr haben, regt Stephan sich auf, „bösartige, tuschelnde, übersättigte Kuchenhexen“. Die treffe man Sonnabendnachmittags in der U-Bahn-Linie 9. Zufriedene alte Leute wiederum seien sehr nett. Und die schlauen Leute, die könnten sich denken, dass er Probleme mit der Ernährung habe.

Stephan kennt das Berliner U-Bahn-Netz, er weiß, auf welchen Linien verstärkt Alkoholiker oder übersättigte „Kuchenhexen“, Tolerante oder Jüngere unterwegs sind. Seine Stimme überschlägt sich nun: „Die Säufer, die haben ihre Seele allerdings direkt beim Teufel abgegeben!“ Sie und die dummen Leute sind es, die ihn aus Gemeinheit beleidigen und zornig werden lassen. „Die schlauen Leute, die lächeln und machen sonst nichts.“

„Bitte beachten Sie das Rauchverbot!“, ermahnt eine Stimme aus den Lautsprechern die Fahrgäste. „Beachten Sie das Rauchverbot, und rauchen Sie nur heimlich!“, fällt Stephan, dem Nichtraucher, dazu gleich ein.

„Was mein Vater mir vorgeschrieben hatte, wollte ich nicht. Lieber in den Müll, als mir Vorschriften machen zu lassen“, erklärt er. Denn sein Vater hatte gewisse Vorstellungen, was gegessen werden durfte. Butter, beispielsweise, war etwas, das verweichlicht. Ein Luxusartikel. „Fleisch und Butter esse ich auch heute noch besonders gern, weil mein Vater es abgelehnt hat.“ Damals habe sein Vater die Butter nach nebenan geschmissen, „danach war in Nachbars Garten alles in Butter“. Auch Salat sei Luxus gewesen: „Ich konnte gegen die Autorität meines Vaters verstoßen, wenn ich Salat gegessen habe.“

Angefaulte Salatköpfe hat er aus dem Müll geholt, die verdorbenen Außenblätter entfernt und die Salatherzen, die noch völlig in Ordnung gewesen seien, mitgenommen und zu Hause gegessen. Denn da „hat es nur Wasser, Brot, Bohnen und Suppe gegeben: Kriegsnahrung“. Die Mutter hat ihm heimlich Geld zugesteckt, denn zu Hause essen wollte er auf keinen Fall mehr. „Meine Mutter ist sowieso ein Engel, wegen ihr habe ich meine Wohnung in Schmargendorf.“ Da habe schon seine Großmutter gewohnt, die 108 Jahre alt wurde. „Ohne meine Mutter wäre ich auf der Straße“, sagt Stephan.

Seine Mutter zahle die Miete und verwalte die Geldangelegenheiten, die Stromrechnung bezahle er selbst: „Wenn die Leute wüssten, wie hoch meine Stromrechnung im Winter ist, dann würden sie mir öfter mal einen Groschen geben.“ Im Sommer gehe er betteln, damit er im Winter genug Geld für Heizofen und Heizdecke habe. Er lebe nur von dem, was er beim Betteln bekomme. Als Student habe er eine dumme Sache gemacht, über die er nicht sprechen will. Dadurch habe er sich verschuldet. „Ich bekomme keine Sozialhilfe, ich nehme doch kein Geld von Folterknechten.“

„Einsteigen, bitte!“, ertönt die vertraute weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. Menschen schieben sich zwischen die Türen. „Ich bin weder Mann noch Frau“, betont Stephan ausdrücklich. Und: „Ich bin ein Junge. Ich bin noch nicht in der Pubertät.“ Seit seinem vierzehnten Lebensjahr habe sein Körper die Entwicklung eingestellt, um Energie zu sparen; sozusagen ein Notüberlebensprogramm entworfen. Seine Seelenlage sei kindlich, nur der Intellekt normal entwickelt. Dies könne man feststellen: Er habe Hormontests gemacht und sei fast frei von männlichen oder weiblichen Hormonen. Für die Ärzte sei er ein Rätsel: „Zwar habe ich normale Wachstumshormone, das Wachstum kommt aber aus übermäßigem Stress und aus Energiemangel nicht zustande.“

Für Seelsorger und Sozialarbeiter Ditz ist die Frage nach einer Krankheit eher unwesentlich: „Was uns fremd ist, erscheint uns oft krank“, erklärt er. Manchmal müsse man sich fragen, ob Krankheit oder Genialität vorliegt. Die Grenzen seien fließend. Stephan, der aussehe, als sei er aus einem mittelalterlichen Totentanz in unsere U-Bahn entsprungen, trage seine Haut zu Markte – und „er tut es bewusst, aber ohne seine Würde zu verlieren“. Er sei eine andere Gestalt des Lebens und habe viel Witz, Ironie, Selbstironie, Intelligenz und Lebensmut.

Nach finanzieller oder materieller Unterstützung hat er in der Pfarrei bisher nie gefragt. Insofern unterscheidet er sich von vielen anderen, die kommen. In der Gemeinde kann er zu Mittag essen, dann sitzen er und Ditz am gedeckten Tisch, zuvor wird gebetet. „Man muss nicht Seelsorger sein, um das zu tun, was ich tue“, sagt Ditz. Das könnte jeder andere auch tun: fantasievolle Nächstenliebe leben. Helfen könne man nur, wenn der andere das selber wolle. Für Ditz ist der Kontakt zu Stephan „der halbwegs gelungene Versuch, sich auf einer Ebene zu treffen. Auf gleicher Augenhöhe.“

Stephan habe keine Scheu vor Öffentlichkeit. Vielleicht suche er diesen Kitzel, sich darzustellen und zu den Leuten zu gehen. Es ist die Sehnsucht danach, wahrgenommen und gehört zu werden. Er spiele damit. In den Jahren, in denen Ditz Stephan wahrnehme, habe er sich nicht verändert, zumindest äußerlich nicht. „Ich habe nicht den Eindruck, dass er ein Mensch ist, der stark verzweifelt wäre“, findet Ditz.

„Guck mal, ein Geist!“, sagen manche über Stephan. „Nicht ganz“, verbessert der sie dann: „Oppositionsgeist.“ Denn Opposition ist ihm wichtig: „Dann bin ich.“ Großen Wert legt er auf gute Ernährung. Leicht verdaulich soll sie sein, Spurenelemente und Vitamine enthalten, und der Preis muss natürlich stimmen. Immer wieder schreibt er in seinen Texten von ungesättigten Fettsäuren: „Nahrungsmittel, die hochgradig satt machen, aber Appetit auf geistige Nahrung hervorrufen.“ Als Jugendlicher habe er sich im Reformhaus Weizenkeime, Leinöl, Jogurt und Gemüsesäfte gekauft. Dadurch sei er in der Schule besser geworden. „Der Konflikt mit meinen Eltern über das Essen war unerträglich. Mein Vater hatte die Idealvorstellung des harten, überlebensfähigen Sohnes. Meine Mutter meinte, gute Ernährung könne doch nicht schaden.“

Über die Ernährung konnte er seinen Protest den Eltern am wirksamsten zeigen. Er wollte sich nicht mehr unterwerfen und verweigerte sich. Aus Sparsamkeit, Dummheit und wegen des Ideals des harten Lebens sei er als Kind sehr schlecht ernährt worden. Mundwinkelrisse, schief gewachsene Fingernägel und schwere Mangelerscheinungen waren die Folge. Immer erkältet, blass und müde sei er zur Schule gekommen, stand im Zeugnis. In Physik hatte er sehr gute Noten. Schon als Kind habe er sich mit Integral- und Differenzialrechnungen beschäftigt, sein Kinderzimmer sei ein einziges Elektroniklabor gewesen.

Nach dem Abitur auf einem naturwissenschaftlichen Gymnasium hat er acht Semester lang Physik studiert und in einer Kellerwohnung eines Abrisshauses im Grunewald billig zur Miete gewohnt. „Dieses Dunkle im Keller ist mir seelisch nicht gut bekommen. In dieser Zeit habe ich wirklich in den finstersten Mülltonnen gewühlt.“ Damals erzählten die Leute über ihn, er wohne in einer Villa im Grunewald, dabei handelte es sich in Wirklichkeit um das Institut für Geophysik.

„Mein Vater war deutscher Offizier“, sagt Stephan. „Also, mein Vater ist von Natur aus ein Engel. Ich weiß, wie er wirklich ist“, fügt er hinzu. Nur: „Die Nazis haben auch Engel zum Teufel geschickt!“ Die Gehirnwäsche seines Vaters wirke leider nach. „Als die Großmutter gestorben ist, da hat er gesagt: Na und? Aber bei dem Wort Vaterland, da stiegen ihm die Tränen in die Augen.“

Manchmal transportiert Stephan zwölf schwere Seltersflaschen aus dem Reformhaus den Berg rauf mit dem Fahrrad und bringt sie zu einer alten Dame, die ihm dafür fünf Mark gibt. Er würde für jeden einkaufen. Das Geld, das er bekommt, wird sofort in Kalorien umgerechnet: „Die Leute wissen nicht, dass, wenn ich beim Betteln tausend Kalorien in der U-Bahn verbrauche und drei Mark bekomme, davon kann ich mir dreißig Kalorien leisten. Dass das dann praktisch eine negative Bilanz ist.“ Um zur Pfarrei zu gehen, beispielsweise, verbrauche er tausend Kalorien. Und der Blumenkohl, den es dann dort vielleicht gibt, der habe fünfhundert Kalorien: auch ein Verlust also.

Er sei nicht so dünn, weil er nichts esse, sondern weil nach der mathematischen Formel – Energiezufuhr minus Energieverbrauch – oftmals ein negativer Wert rauskomme: „Die Relation beider stimmt bei mir nicht. Für mich ist eben einmal zu Aldi hin und zurück das, was für einen Marathonläufer ein halber Marathonlauf ist. Ich esse schon, ohne Essen geht es nicht. Also, ich esse sogar relativ viel.“ In seinen Texten schreibt er dann auch: „Haste nicht mal ein paar Proteine für mich?“

„Erschrecken Sie nicht!“, hebt Stephan die Stimme laut und deutlich an, wartet ab und blickt in die Runde, um auch die Gesichter in der hinteren Ecke zu sehen, „Nachdem ich letzte Woche noch ohne Ihre Hilfe war, möchte ich doch heute wieder etwas essen können und bitte um Hilfe für meinen Lebensmut.“ Ein entschlossener Blick. Einige geben etwas, andere schauen weg.

„Mein Vater meinte, im Krieg wären die Leute, die genug zu essen hatten, zu dick gewesen. Und als die Russen gekommen sind, konnten die nicht weglaufen, weil das Wohlleben sie weich gemacht hatte. Nur die Harten, karg Lebenden hätten den Krieg überstanden“, erzählt Stephan über seinen Vater. Und: „Mit diesem etwas schizophrenen Ideal ist er an meine Entwicklung herangetreten, und das hat mich überfordert. Mein Vater war im Krieg an der Front“, sagt Stephan und zählt dessen Verletzungen auf: das geplatzte Trommelfell, die Schusswunde in der Schulter, die Hand, die er nicht mehr drehen kann. Die Splitter im Kopf. Der durchschossene Arm. Als Kind musste Stephan alles können, durfte nicht weinen, musste immer brav und dankbar sein, Fragen durfte er keine stellen. Er fühlte sich abgelehnt.

Wenig Vertrauen hat Stephan zu Ärzten. Denn 1990 habe ihn eine Ärztin gegen seinen Willen festgehalten, als er wegen Salmonellenvergiftung, Austrocknung und körperlicher Überanstrengung ins Berliner Martin-Luther-Krankenhaus eingeliefert wurde. „Ich war zwar immer schon sehr dünn, aber diese Ärztin hat mich misshandelt.“ Sie habe vorgelogen, dass er glücklich sei und nicht wünsche, mit einem Richter zu sprechen. „Und der Staat verteidigt sie auch noch!“, ruft Stephan laut. „Von diesem Staat nehme ich nichts an! Er lässt sich anlügen, er weiß, dass es Lügen sind, aber es ist einfach bequemer, Leute, deren Leben sowieso nicht als gesellschaftlich wertvoll erscheint, der Forschung zu opfern.“

Nachdem er aus diesem Krankenhaus entlassen wurde, sei er in ein anderes gekommen. „Zu normalen Ärzten und keinen Psychopathen. Zu solchen Ärzten, die einfach die Menschenwürde achten, die schlau sind und erkennen: Gute Ratschläge will sowieso keiner! Ärzte, die auch die seelische Natur durchschauen, zu denen gehe ich.“

Auf einem ruhigen Bahnsteig lässt er sich auf eine Bank fallen. Ein breiter Streifen Schaumstoff hängt am unteren Rand der Jacke und dient als tragbares Kissen. „Ich glaube, dass viele Leute Angst davor haben, vor sich selbst zugeben zu müssen, dass es Dinge gibt, die sie nicht gleich verstehen. Und dann sind sie mir böse, dass ich in ihr Schwarzweißbild nicht reinpasse“, sagt Stephan. „Ich will gar nicht, dass irgendjemand etwas Nettes über mich denkt. Wenn ich Leuten überhaupt erst mal das Gefühl gebe, ich bin nichts, gar nichts und noch weniger als nichts, dann brauche ich keine Angst zu haben, jemanden zu enttäuschen.“

Stephan legt Wert auf die Feststellung, dass er seinen Eltern keine Vorwürfe macht SONJA SCHWÄR, 38, lebt als freie Journalistin in Berlin