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Prima Bilder von Spinnern und Hippies

Neue Diskurse schaffen: Mit Konzepten für die kommende documenta hält sich Kurator Okwui Enwezor noch bedeckt. Die Aufmerksamkeitsproduktion läuft dafür bereits auf Hochtouren. Ein Gewinner steht auch schon fest: Harald Szeemann. Seine documenta V von 1972 wird zum Vorbild stilisiert

Happening, Werbeästhetik, Science-Fiction: Enwezor mag die Totalität der Erscheinungsformen, die das Leben auf der documenta V annahm

von HARALD FRICKE

Allmählich kommt Unruhe ins Spiel. Namen machen die Runde, man raunt sich Konzepte zu, Künstler und Künstlerinnen werden genannt, mit denen man rechnen muss. So ist es vor jeder documenta. Diesmal fällt dem aus Nigeria stammenden Kurator Okwui Enwezor die Aufgabe zu, die Spannung bis zur Eröffnung im Juni zu halten. Er weiß um die Rituale der Inszenierung, die hat er von Vorgängerin Catherine David gelernt, die bis ins Frühjahr 1997 nicht über Künstlerlisten für die documenta X redete. Sie verachtete den Kult um Personen, der alle politischen und theoretischen Erörterungen zur wichtigsten internationalen Kunstausstellung auf Namen reduziere. Stattdessen setzte David im Vorfeld auf Diskussionsrunden, sprach in Johannesburg oder Wien über lokale Zusammenhänge in Zeiten der Globalisierung.

Enwezor scheint da anknüpfen zu wollen. Bislang hat er jede Frage nach Auswahl oder Konzept mit spöttischem Lächeln abgewiesen und sich über das westliche Ignorieren einer kulturell im Wandel begriffenen Welt echauffiert. Offenbar möchte er Davids Anspruch, „Identifikationsbemühungen in fraktalen Gesellschaften“ zu zeigen, wie es in ihrem Katalog hieß, noch übertreffen: Seine als Plattformen angelegten documenta-Symposien in Wien, Berlin, St. Lucia oder Lagos sind vor allem Seminare in Sachen post-colonial studies und politischer Ökonomie; seine Vorträge werden bereits mit Unesco-Reden verglichen. Das schafft enormen Respekt unter Akademikern und sorgt hinter den Kulissen für Häme aus dem Kunstbetrieb.

Die solchermaßen angeheizte Stimmung ist eine sichere Bank dafür, dass auch die documenta XI medial gut zu verwertende Polarisierungen bringen wird. Während David mit dem Vorwurf leben musste, dass sie Kunst bloß als Illustration für ihre eigene, von den politischen Kämpfen der Siebzigerjahre geprägte Biografie benutzt hätte, bekommt man auch bei Enwezor nicht viel über sein Engagement für zeitgenössische Kunst zu hören. Nun aber heißt es in einem Rundbrief der documenta immerhin, dass ab April die Künstlerliste vorliegen soll. Alles wie immer.

Bis dahin darf weiter spekuliert werden. Doch unabhängig von den Bedenken, ob und wie Enwezor für seine documenta Aufmerksamkeit schafft, steht ein Gewinner bereits fest: Harald Szeemann. Mehr noch als bei Catherine Davids Retroveranstaltung vor fünf Jahren wird seine documenta V von 1972 zum Vorbild der kommenden documenta stilisiert. Enwezor selbst hat in Interviews geschwärmt, wie sehr ihn Szeemanns kuratorische Arbeit von damals bei seinen Vorbereitungen inspiriert hat. Dabei geht es weniger um eine Neufassung des sozialutopischen Ausstellungsmodells, für dessen Umsetzung Szeemann seinerzeit Kunst, Alltagskultur und Polit-Happening oder Werbeästhetik und Science-Fiction vermischte. Enwezor mag die Totalität der Erscheinungsformen, die das Leben auf der documenta V annehmen konnte. Diese Idee von der Einheit der Welt in der Vielfalt ihrer Darstellungsmöglichkeiten hält er zwar durch die Ereignisse vom 11. September für widerlegt. Doch zugleich sieht er heute in der Kunst die Aufgabe, „neue Diskursgemeinschaften narrativ zu gestalten“. Insofern dürfte sein kommunikativ gefasster Ansatz dem Gemischtwarenladen bei Szeemann sehr ähnlich sein, der schließlich auch an das Wechselspiel kultureller Kräfte glaubte, wenn er etwa das von Joseph Beuys geleitete „Büro der Organisation für Demokratie durch Volksabstimmung“ mit dem Wiener Aktionismus koppelte oder dem neuesten Trend der Fotorealisten die Kunst von Geisteskranken gegenüberstellte.

Aber hat es auch funktioniert? Je weiter die Szeemann-documenta zurückliegt, desto mehr Mythen schwingen in Erinnerungen an den Event von 1972 mit. Das führt manchmal zu erstaunlichen Interpretationen. So hatte Thomas Peiter, ein Weggefährte von Beuys, im Vorfeld der Ausstellung angekündigt, dass die beiden mit einer Aktion, bei der auf Tafeln erklärt wurde: „Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die documenta“, massenweise Zuschauer anlocken werde. Sogar die hessische Polizei hatte einen anonymen Anruf erhalten, um Reklame für das Ereignis zu machen. Zwei Tage nach der Eröffnung kam es im Zuge der Großfahndungen dann aber zur Festnahme der beiden am meisten gesuchten Terroristen. Plötzlich galt die Arbeit von Peiter und Beuys nicht mehr als cooles Statement, mit dem die Kasseler Bürger provoziert werden sollten, sondern als ein Appell, „fehlgeleitete Energien wieder positiv für die Gesellschaft nutzbar zu machen“.

Das Beispiel wird in dem Reader „Wiedervorlage d5“ angeführt, der anlässlich einer dokumentarischen Ausstellung im Friedricianum Kassel Ende letzten Jahres erschienen ist. Dort war ein begehbares Archiv eingerichtet worden, in dem man sich von den ersten Konzeptpapieren Szeemanns über das übliche Gerangel um Gelder bis zur teils vernichtenden Presse nach der Eröffnung informieren konnte. Immer wieder stieß man auch auf den Konflikt zwischen politischem Anspruch und künstlerischer Praxis: Während Klaus Staeck etwa gegen L’art pour l’art polemisierte und in Kassel großflächig agitieren wollte, legte Szeemann gerade in Zeiten von Terrorismus und Befreiungskämpfen in der so genannten Dritten Welt sehr viel Wert auf die Freiheit der Kunst, nicht dermaßen repräsentativ zu sein. Statt den Forderungen linker Gruppierungen nachzugeben, die documenta zum Forum des Widerstands zu machen, setzte Szeemann auf seine Vorstellung von „individuellen Mythologien“, für die der Künstler die Wirklichkeit als Projektionsfläche der eigenen Wahrnehmung nutzen sollte. Paul Thek baute sich eine Pyramide, in die er sein „Portrait of a dead hippie“ legte, John de Andrea ließ ein Pärchen Sex hinter Glas haben, Don Eddy malte Schrottplätze als Konsumkritik haargenau nach Fotos ab.

Was für „Wiedervorlage d5“ in unzähligen Loseblattsammlungen und Zeitungsausschnitten nachzulesen ist, konnte man schon während der documenta 1972 parallel mitverfolgen. Denn mit dem noch neuen Medium Video kam erstmals so etwas wie ein Diskurs über Kunst und Öffentlichkeit innerhalb des Hundert-Tage-Spektakels zustande. In Karl Oskar Blases „Videothek“ konnte das Publikum sich Interviews mit Künstlern, Kritikern und Besuchern anschauen. Heute würde man Blases permanent erweiterte Gesprächssammlung vermutlich als „Vermittlungsarbeit“ bezeichnen – Kontextkunst, die den Rahmen der Ausstellung selbst thematisiert.

Vor 30 Jahren war dieses work in progress jedoch ein technisches Wagnis: Mit zwei Akai-Videorekordern ausgestattet, hatte sich Blase ein Studio auf der documenta eingerichtet, in dem er über das Pro und Kontra so lange mit seinen Gästen redete, bis eine der tonbandartigen Spulen abgelaufen war. Die insgesamt 80 Talks waren direkt vor Ort in einer weißen Fernsehlounge einsehbar – Schnitte gab es nicht, das war bei der damaligen Qualität der Abspielgeräte unmöglich. Mittlerweile hat Christoph Blase, der im Netz die Kunstkritik-Homepage www.blitzreview.de betreibt, das Material seines Vater sorgfältig restauriert. Die Bänder wurden neu gesichtet, auf heutige Norm digital umkopiert und dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie zur Verfügung gestellt, das das Konvolut bis Mitte März auf Großbildschirmen für d5-Interessierte noch einmal zugänglich macht.

Tatsächlich zeugt der unverfälschte Livecharakter der Bänder im besten Sinne von Zeit. Selten kann man zentralen Figuren der frühen Siebzigerjahre wie Ben Vautier, Bazon Brock oder dem jungen Jean-Cristophe Amann bei der zumeist stolpernden Verfertigung von Gedanken während des Sprechens zuschauen – nur Ernst Bloch redet, wie er schreibt. Die Sitzung mit Beuys dauert 22 Minuten, in denen er sehr plausibel schildert, dass „das erste Kunstwerk das Denken selbst ist“. Und Charles Wilp nutzt die Zeit vor der Kamera, um die Verführungsmacht der Kunst auch für seine Arbeit als Werbedesigner mit einer kleinen Trockeneis-Performance visuell greifbar zu präsentieren.

Dabei ist vor allem die unaufgeregte Atmosphäre beeindruckend, in der Blase seine Gesprächspartner nüchtern, aber sachverständig ausfragt. Nie wird der Ton aggressiv, nie kippt die Unterhaltung ins Künstler-sind-Outlaws-Entertainment um. Das mag auch an Blases Position im engeren documenta-Umkreis liegen: Schon 1964 war er an der documenta III in der Abteilung Grafik/Design als Künstler beteiligt gewesen, zwischen 1968 und 1987 wurde der an der Gesamthochschule Kassel unterrichtende Professor für visuelle Kommunikation von der documenta IV bis VIII mit der Gestaltung von Katalogen, Logos und Plakaten beauftragt.

Das schafft einige Anerkennung unter Kollegen – selbst bei einem langhaarigen Revoluzzer in speckiger Jeansjacke wie Christos Joachimides, auch wenn er immer wieder „liebe Blase“ sagt. Wenig später sagt Joachimides aber auch, wie reaktionär und gefährlich er die documenta V wegen der neuen Fotorealisten findet: „Nachher werden die Besucher sagen, prima Bilder von Autos und Pferden und Werbung, aber auch viele Spinner und Hippies, die sich ihre Haare nicht gewaschen haben und die man aushalten muss.“ Harald Szeemann dagegen sieht nur noch erschöpft aus im Interview und murmelt mit belegter Stimme etwas von Kritikern, die ihn ärgern, „weil sie zu schnell urteilen“. Wer weiß, ob man solche Bilder in ein paar Monaten nicht auch von Okwui Enwezor zu sehen bekommt.

„Audiovisuelle Dokumentation“ (d5) von Karl Oskar Blase, bis 17. März, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe.„Wiedervorlage d5“ wird ab Ende Mai in der Kunsthalle Wien gezeigt. Der Katalog ist im Verlag Hatje Cantz erschienen und kostet 29,80 €.

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