: Das zertrümmerte Exil
Wer im zerstörten Flüchtlingslager von Rafah seine Papiere retten konnte, hat noch Glück gehabt
aus Rafah SUSANNE KNAUL
Das nackte Bein einer Barbie-Puppe ragt aus den Trümmern des von Bulldozern niedergerissenen Hauses. Teile verbogenen Wellblechs, Asbeststücke, Tischtücher, die verrostete Tür einer Mikrowelle und Schuhe liegen dort herum, wo israelische Soldaten über zwei Stunden lang wüteten. Nichts, was noch einen Wert hätte. Was zu retten war, haben die palästinensischen Familien, die seit vergangenem Wochenende obdachlos sind, längst herausgesucht.
Die Bulldozer und Panzer kamen ohne Vorwarnung. Glücklich ist, wer wenigstens seine Papiere retten konnte. Alles anderes liegt verschüttet unter Steinen und Betonblöcken.
Es hat die letzten fünf Häuserreihen des „Blocks O“ im Flüchtlingslager von Rafah getroffen. Die Namensgebung „Block O“ stammt von der Uno. 1948 errichtete die Hilfsorganisaton eine Zeltstadt für die Palästinenser, die im Verlauf des israelischen Unabhängigkeitskrieges aus ihrer Heimat fliehen mussten. Nach über 50 Jahren sind aus den Zelten Steinbaracken mit provisorischen Wellblech- und Asbestdächern geworden, die schmalen Wege zwischen den Häuserreihen sind noch immer nicht gepflastert. Kinder hüpfen trotz Nässe und Kälte barfuß durch den Schlamm.
Hassan und Afaat wohnen in der sechsten Reihe. Einer der Bulldozer hat das Wohnzimmer des jungen Paares demoliert. Die Vorderfront wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Holzvertäfelung zur Hälfte runtergerissen. Schutt, Drähte, Staub und Glasscherben bedecken den Boden. Hassan sitzt mit einem Nachbarn neben einem Blechgrill, auf dem sie einen Ast angezündet haben, um sich zu wärmen. Die kaputte Wand gibt den Blick frei auf den Trümmerhaufen von insgesamt 73 niedergewalzten Häusern. Dahinter liegt die Grenze zu Ägypten.
Den Schmuggel von Waffen zu unterbinden, so lautete die offizielle israelische Begründung für den Abriss der 73 Häuser an der ägyptischen Grenze. Die Kaperung des palästinensischen Schiffes „Karine A“, das 50 Tonnen Rüstungsmaterial geladen hatte, und ein Anschlag von zwei Hamas-Mitgliedern, bei dem vier israelische Soldaten getötet wurden, waren der Militäroperation vorausgegangen. Israels Armee stellte sich auf den Standpunkt, die Häuser seien ohnehin unbewohnt gewesen. Sollte es tatsächlich neue Obdachlose geben, sagte Israels Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser, dann werde jeder einen Caravan bekommen.
Sicher ist nur, dass nicht alle Häuser bewohnt waren. Denn die andauernden Schießereien an der Grenze, die israelische Soldaten streng bewachen, machten das Leben in der ersten Reihe vom „Block O“ seit Monaten unerträglich. „Vielleicht sind zehn Prozent der Leute weggegangen“, spekuliert Hassan. Aber die anderen Häuser seien noch bewohnt gewesen, das bewiesen Gegenstände, die zwischen den Trümmern gelegen hätten: Matratzen, Kleidungsstücke und Küchengeräte. Davon ist jetzt nicht mehr viel übrig. Ein verbogenes Abflussrohr und eine zertrümmerte Waschmaschine könnten schon seit Wochen hier gelegen haben. „Dieses Radio stand immer neben meinem Bett“, ruft ein Halbwüchsiger und hält demonstrativ einen kaputten Weltempfänger in die Luft. Ein älterer Mann klettert mit Hilfe seines Gehstocks auf den Trümmerberg und erzählt, was geschah, als die Bulldozer kamen: „Sonst geben sie immer eine Vorwarnung. Aber diesmal – nichts. Wir konnten nur unsere Kinder holen und schnell verschwinden.“ Die Operation begann um 2 Uhr in der Nacht zum vergangenen Freitag.
„Die Schmerzen des Friedens sind besser als die Qualen des Krieges“, steht auf einem Plakat, das die Autonomiebehörde an verschiedenen Orten im Gaza-Streifen aufstellen ließ. Auf dem Weg nach Rafah-Stadt steht auch eins. 80 Zelte stellte die für die palästinensischen Flüchtlinge zuständige UN-Hilfstruppe zur Verfügung. Ungefähr die Hälfte davon haben die Leute im Stadtzentrum aufgestellt. Said Abu Libda und Machmud Lafin, beide 16 Jahre alt, wohnen seit ein paar Tagen hier.
„Ich habe gerade für meine Abitursprüfungen gelernt, als ich den Lärm hörte“, berichtet Said. „Die Bulldozer waren schon direkt vor unserem Haus. Ich konnte mich gerade noch zu unseren Nachbarn retten.“ 1948 seien seine Großeltern vertrieben worden, sagt er. „Dies ist die zweite Emigration. Nur dass wir jetzt nicht mehr wissen, wohin.“ Said verabschiedet sich hastig, als ihn ein paar Freunde mit dem Auto abholen. Sie wollen Plakate vom „Rais“, vom Präsidenten Jassir Arafat aufhängen und für die Fatah-Partei werben.
Machmud muss bei seinen kleinen Geschwistern bleiben. Er deutet auf die Füße seines Bruders, die in kaputten Sandalen stecken. „Ist das ein Leben?“, fragt er. „Meine Geschwister haben nichts anzuziehen.“ Er selbst trägt neue Cordhosen und ein Baumwollhemd. „Das habe ich alles kaufen müssen. Wir sind in Pyjamas aus dem Haus geflohen.“ Die Schuhe habe er sich von einem Freund geborgt. In den meisten Zelten liegen nur ein paar Plastikmatten, in manchen steht noch ein Blechgrill mit brennendem Holz. Machmud sagt, er müsse auf dem nackten Fußboden schlafen.
Nach Angaben eines UN-Sprechers in Gaza wurden den Flüchtlingen aus den zerstörten Häusern 450 Matrazen und Decken sowie 58.000 Dollar Bargeld zur Verfügung gestellt. Der Sprecher vermutet, dass die meisten Leute Unterschlupf bei Verwandten gefunden haben und bald versuchen werden, neue Wohnungen zu mieten. In der Zeltstadt überwiegt Hoffnungslosigkeit. Viele der Leute sind arbeitslos und könnten eine Miete überhaupt nicht aufbringen. Machmud befürwortet die Zweistaatenlösung mit Israel, dennoch ist er voller Hass auf die Besatzer. „Diesem Mann hat vor drei Monaten ein Panzer ein Bein abgefahren“, sagt er und deutet auf einen Palästinenser, der sich mit Mühe auf seinen Krückstocken voranbewegt. Einem anderen Mann wurde ein Auge weggeschossen. Saids Onkel starb bei einer Demonstration – die schrecklichen Geschichten der Leute aus der Grenzregion wollen kein Ende nehmen. „Scharon liebt das Blut“, ruft ein etwa Zehnjähriger auf Englisch und Machmud stimmt zu: „Wenn Scharon uns Kinder tötet, wird eine ganze Generation kommen und uns rächen.“
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