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Der Bündnis-Fall

Stolz, fröhlich, unschuldig – so traten acht Bürgerrechtler 1990 im Bundestag an. Davon ist so gut wie nichts geblieben

von JENS KÖNIG

Das Foto erzählt eigentlich schon die ganze Geschichte. Drei Frauen und fünf Männer, stolz, fröhlich, ein bisschen schüchtern vielleicht. Trotz ihres Alters könnte man sie glatt für Abiturienten halten, die gerade ihre Prüfungen bestanden haben. Sie wirken irgendwie unschuldig, als läge das ganze Leben noch vor ihnen.

Dabei haben sie alle bereits ein Leben hinter sich, und was für eines: als Bürgerrechtler in der DDR, als Oppositionelle, die jahrelang gegen einen mächtigen Staat gekämpft haben. Die dicken Pullover und die offenen Hemdkragen erinnern an ihre Widerspenstigkeit.

In dem Moment, in dem dieses Foto entstand, im Dezember 1990, begann ein neues, ungewohntes Leben für sie. Diese acht Bürgerrechtler waren über die Wahlliste Bündnis 90/Die Grünen gerade in den ersten gesamtdeutschen Bundestag eingezogen. Sie repräsentierten dort nicht nur die DDR-Bürgerbewegung, sondern auch die grüne Partei; die Westgrünen waren an der Fünfprozenthürde gescheitert. Drei Jahre später wurde aus Bündnis 90 und den Grünen eine gemeinsame Partei. Acht Jahre später saß diese Partei in der Regierung.

Und noch einmal vier Jahre später ist das Bündnis 90 so gut wie tot.

Wenn man heute, im Jahre 2002, auf das Foto von 1990 schaut, dann kann man den Tod sogar erkennen. Das Bild wirkt, als sei es über hundert Jahre alt. Welche Politiker würden heute noch so unbedarft in die Kamera blicken? Und wer weiß denn schon, wer Ingrid Köppe war? Und dieser Mann in der zweiten Reihe, der dritte von links?

Dem Tod vom Bündnis 90 würde man auch bei dem Versuch begegnen, diese lachenden Bürgerrechtler von damals heute nochmal gemeinsam auf ein Foto zu kriegen. Eher könnte man Helmut Kohl überreden, Wolfgang Schäuble zu heiraten. Die acht sind in alle Winde verstreut, haben sich aus den Augen verloren, politisch überworfen, privat verkracht. Vera Lengsfeld ist zur CDU übergelaufen, Christina Schenk bei der PDS gelandet und Ingrid Köppe völlig von der Bildfläche verschwunden, sie soll in Frankfurt (Oder) Jura studieren. Konrad Weiß ist aus der Partei ausgetreten. Klaus-Dieter Feige lebt als freier Unternehmensberater zurückgezogen in Mecklenburg. Wolfgang Ullmann ist Rentner. Von Gerd Poppe ist auch nichts mehr zu hören, obwohl er Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung ist. Der Einzige, der sich noch sicher auf dem Glatteis grüner Regierungspolitik bewegt, ist Werner Schulz, der wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion.

Kein Artenschutz für Ossis

„Ich bin der letzte Bürgerrechtler bei den Grünen“, sagt Schulz, und an seinen müden Augen kann man ablesen, dass er darüber nicht glücklich ist.

In seiner Partei sagen sie, dass es für Bürgerrechtler keinen Artenschutz mehr gibt. Und so werden die Grünen an diesem Wochenende Bündnis 90 den letzten Todesstoß versetzen. Sie werden Schulz auf der Mitgliederversammlung in Berlin auf Platz 3, 4 oder 5 der Landesliste zur Bundestagswahl wählen, obwohl alle wissen, dass nur die ersten beiden Plätze ein sicheres Ticket fürs Parlament bedeuten. „Das ist die alte Parteimasche“, sagt Schulz, „eins links, eins rechts, den Osten fallen lassen.“

Wolfgang Ullmann traut den Grünen diese Dummheit zu, mit Werner Schulz auf den führenden Kopf der ostdeutschen Grünen zu verzichten. Ullmann traut seiner Partei mittlerweile überhaupt so ziemlich jede Dummheit zu. Am 16. November saß er vor dem Fernseher und sah, wie die Grünen bei der Vertrauensabstimmung im Bundestag dem Kanzler zu Kreuze krochen und einige Abgeordnete gegen ihre Überzeugung den Krieg gegen Afghanistan verteidigten. Er fand dieses Schauspiel erbärmlich. Als sein Freund Helmut Lippelt nach der Abstimmung dem Kanzler gratulierte, war Ullmann dem Zusammenbruch nahe. Helmut, schrie er in den Fernseher, als könne Lippelt ihn hören, du gratulierst dem Schröder, obwohl er dich gedemütigt hat.

Wenn man den 72-Jährigen zu Hause im Berlin besucht, stößt man an seiner Wohnungstür zunächst auf ein vergilbtes Plakat vom Bündnis 90. Es hängt da wie bestellt. In Ullmanns Wohnung kann man sich verlaufen. Er weiß selbst nicht genau, wie viele Zimmer es sind, sieben oder acht. Seine Wohnung gehört zum Pfarrhaus der Golgatha-Gemeinde. Früher, erzählt Ullmann, war das ein kirchliches Wohnheim für junge Mädchen, die von ihren Eltern hierher geschickt worden sind, damit sie nicht im Sumpf der Großstadt versinken.

Früher – das klingt bei Ullmann so, als sei es gerade erst gestern gewesen. Wie er da so in seinem Sessel sitzt und über Demokratie philosophiert, die Brille tanzt auf seiner Nase, die Hände fliegen durch die Luft, um ihn herum lauter Bücher, da wirkt der Kirchenhistoriker so, als bereite er gerade die bürgerliche Revolution vor. Auf seinem Schreibtisch liegt Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Sein Freund Jens Reich behauptet, Ullmann sei der Einzige, der ohne als Fremdkörper zu wirken auch im Frankfurter Paulskirchenparlament von 1848 hätte sitzen können.

Viele bei den Grünen haben Ullmann deswegen nie für einen richtigen Politiker gehalten. Deswegen tut es ihnen auch nicht weh, dass ein so kluger, sanfter Kirchenmann zu Hause von seiner Wut über die Grünen schier aufgefressen wird. Der ist verbittert, sagen sie.

Vor Weihnachten hat Wolfgang Ullmann zusammen mit 40 anderen ehemaligen Bürgerrechtlern einen Aufruf veröffentlicht, der mit den gleichen Worten beginnt, wie der Gründungsaufruf des „Neuen Forum“ 1989 in der DDR: „Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört.“ Der Aufruf ist eine radikale Abrechnung mit dem politischen System der Bundesrepublik, das nicht besser sei als die DDR, mit Volksverdummung, Abhörmethoden, die an die Stasi erinnern, und uneingeschränkter Solidarität mit einem großen Waffenbruder.

Der Aufruf liest sich wie ein Austritt aus der Bundesrepublik. „Was kann ich denn dafür, dass sich der Bundestag genauso verhält wie die jämmerliche Volkskammer“, sagt Ullmann. Er hat in der letzten Zeit sowieso lauter Déjà-vu-Erlebnisse, die die DDR wiederkehren lassen. Als sein Enkel neulich in der Schule bei einer Gedenkfeier für die Toten in New York äußerte, bei den Toten in Somalia hätte keiner getrauert, da habe ihm der Lehrer mit schlechteren Noten gedroht. „Unser Appell ist ein Notruf“, sagt Ullmann.

Einer, der ungehört verhallen wird. Ullmann hat angekündigt, seine Partei zu verlassen, wenn die Grünen sich mit ihrem neuen Grundsatzprogramm vom Pazifismus verabschieden sollten.

Ullmann wird nicht mal mehr wehmütig ums Herz, wenn er sich das Foto von 1990 ansieht. Er mit Blumen, Schlips und Adornobrille in dieser fröhlichen Bürgerrechtler-WG. „Das war eine schöne Zeit“, sagt er nüchtern. „Aber die ist vorbei. So ist das Leben.“

Werner Schulz hockt verloren im Sitzungssaal des Rathauses in Berlin-Tiergarten. Die Mitglieder der grünen Bezirksgruppe trudeln nach und nach ein, kaum einer beachtet ihn. Ströbele, sein Konkurrent um das Bundestags-Ticket, kommt und gibt ihm die Hand. An diesem Abend sollen sich die Kandidaten für die Landesliste der Basis vorstellen.

Wie nach zehn Jahren Grönland

Schulz beginnt. „Ich heiße Werner Schulz“, sagt er, „einige von euch werden mich vielleicht kennen.“ Dann zählt er auf, was er die letzten 25 Jahre gemacht hat: Opposition in der DDR, Entlassung an der Humboldt, Arbeit in der Umwelthygiene, Gründungsmitglied des „Neuen Forum“, Volkskammer, Bundestag. Schulz redet und redet, als sei er gerade von einer zehnjährigen Grönland-Expedition zurück. Noch während er spricht, verteilt ein junger Mann Zettel zwischen den Reihen. „Aufruf zur Unterstützung der Kandidatur von Ströbele auf Listenplatz 2“ steht darauf.

„Als Ostdeutscher musst du ständig deine Lebensgeschichte erzählen“, sagt Schulz, als er wieder draußen ist. Ströbele muss kein Wort über sich verlieren.

Als Werner Schulz später im Café das Foto von 1990 sieht, er mit Ullmann, Lengsfeld und den anderen im Bundestag, muss er lachen. Sein Bart war damals noch nicht grau. „Das war eine tolle Zeit“ , sagt er. Aufregend, intensiv, hart. Schon zwei Jahre später, erzählt Schulz, sei ihm die Anstrengung ins Gesicht geschrieben gewesen, wie bei einem Tagelöhner in Workuta. Einwanderungsgesetz, Naturschutzgesetz, Ökosteuer – viele politische Projekte, die die Grünen heute in der Regierung umsetzen, haben ihren Ursprung in der Arbeit der Bundestagsgruppe aus dem Osten. Aber daran erinnert sich in der Partei kaum noch einer. „Die Grünen waren nicht mit der deutschen Einheit beschäftigt“, sagt Schulz, „sondern mit sich selbst.“

Werner Schulz ist ein intelligenter Mann. Er hält im Bundestag witzige, kunstvoll gedrechselte Reden. Er lebt nicht von der Vergangenheit. Vor vier Jahren wäre er sogar fast Chef der grünen Bundestagsfraktion geworden. Aber heute muss er feststellen, dass vom Erbe der Bürgerbewegung bei den Grünen kaum etwas übrig geblieben ist. Schulz kann stundenlang über die Ursachen dieses Niedergangs erzählen, vom fehlenden Konzept für den Parteiaufbau im Osten bis hin zu den Fehlern der ostdeutschen Grünen selbst, die sich nie als gemeinsamer Machtfaktor verstanden haben. Vorwürfe jedoch will er für dieses Versagen niemandem machen. Er möchte nur, dass die Partei begreift, dass sie ohne Ostdeutsche auf dem besten Wege ist, ein westdeutscher Regionalverein zu werden, eine Regierungspartei mit einer außerparlamentarischen Opposition im Osten.

Und jetzt ist Werner Schulz von dieser Ignoranz selbst betroffen. Sie wird ihn im Herbst mit 52 Jahren seine politische Karriere kosten. Er wird sich einen neuen Job suchen müssen, wo, weiß er noch nicht. Trotzdem behauptet Schulz, er sei nicht verbittert. „Ich habe in der DDR gelernt, zu kämpfen und gleichzeitig heiter zu sein“, sagt er. Aber heiter war Werner Schulz schon lange nicht mehr. Er kann nicht zur Schau stellen, was er nicht ist. „Na gut“, sagt er, „vielleicht bin ich ein bisschen traurig.“

Schulz schaut sich noch einmal das Foto an. Dann wirft er ein Stück Zucker in den Tee und guckt dabei zu, wie es sich in nichts auflöst.

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