Ein Hauch von 1989

Werner Schulz zeigt seiner grünen Partei, was ein Bürgerrechtler alles kann, der in der DDR das Kämpfen und in Kirchen das Reden gelernt hat

aus Berlin JENS KÖNIG

Politik kann so schön sein. Man muss einfach nur gewinnen.

Werner Schulz hat in Berlin gerade den zweiten sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl errungen, schon stehen sie alle Schlange bei ihm: seine Freunde, seine Feinde, die Ministerin, die Medien, viele namenlose Grüne. Sogar einer der Vertrauten von Joschka Fischer taucht aus dem Nichts plötzlich neben ihm auf. Und drei Minuten später ist der große grüne Herr und Meister sogar persönlich am Handy. Joschka Fischer gratuliert, und natürlich sieht er jetzt generös darüber hinweg, dass es seine Strippenzieher waren, die nach dem Sieg bei der Bundestagswahl 1998 nicht den Ostdeutschen Schulz, sondern Rezzo Schlauch zum Chef der grünen Bundestagsfraktion gemacht haben. Aber was soll’s, Schwamm drüber, in der Stunde des Triumphs ist jeder gern auf der Seite des Siegers.

Und Werner Schulz genießt den Triumph. Es ist erst einmal sein Sieg, ganz allein sein Sieg. Niemand hat ihm den mehr zugetraut. Schulz, der die symbolische Niederlage gegen Schlauch und Fischers Leute vor vier Jahren als persönliche Kränkung empfunden hat und darüber ganz melancholisch geworden ist, wusste ja selbst schon gar nicht mehr, wie es ist zu gewinnen. Jetzt stehen ihm die Tränen in den Augen. Er hat sich zurückgeholt, was andere ihm genommen haben. Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, wie seine Lippen ein Wort formen, das ihm tonlos aus dem Mund fällt: Wahnsinn.

Die Berliner Grünen waren an diesem Tag nicht zu beneiden. Immer noch schwer gebeutelt von dem wieder mal fehlgeschlagenen Versuch, in der Hauptstadt mitzuregieren, mussten sie die Landesliste für die Bundestagswahl aufstellen, und sie konnten dabei nur alles falsch machen. Weil der Bundestag verkleinert wird, gelten nur zwei Parlamentssitze für die Berliner als sicher.

Auf Platz eins stand von vornherein unangefochten Renate Künast, die populäre Agrarministerin. Aber bei dem verzweifelten Kampf um den zweiten rettenden Listenplatz standen sich drei Promis gegenüber, die wichtige grüne Milieus repräsentieren, jeder auf seine Weise: Hans-Christian Ströbele, der letzte Mohikaner der Linken. Andrea Fischer, die bundesweit anerkannte Expertin für Sozial- und Genpolitik. Und Werner Schulz, der profilierteste Ostpolitiker und letzte prominente DDR-Bürgerrechtler. Fest stand also, bei dieser Grundsatzentscheidung wird es Verlierer geben, und was für welche.

In der mittlerweile durch und durch westdeutsch geprägten Partei schien es keine Frage zu sein, dass Schulz als Erster auf der Strecke bleibt. Erwartet wurde der große Showdown zwischen Ströbele und Fischer. Genau das war Schulz’ Chance: Er hatte keine.

Vom ersten Satz an ging Schulz in seiner Rede offensiv damit um. „Der alte Sponti-Spruch, du hast keine Chance, also nutze sie, trifft auf mich nicht zu“, rief er in den Saal. „Ich bin nicht hierhergekommen, um meinen politischen Nachruf schreiben zu lassen.“ Dann zeigte er, was ein Bürgerrechtler alles kann, der in der DDR das Kämpfen und in der Kirche das Reden gelernt hat. Er sagte seiner Partei klar und deutlich, worum es für sie an diesem Tag geht: „Wir dürfen der Westausdehnung der PDS nicht die Ostausdünnung der Bündnisgrünen folgen lassen.“

Aber Schulz bot keine der üblichen traurigen, leicht weinerlichen Ostnummern. Er stand aufrecht. Er war selbstbewusst. Er griff an. Er hatte einen grandiosen Auftritt. Hier verwob einer seine politische Biografie intelligent und witzig mit seinem politischen Programm. Er mahnte seine Partei, nicht wie 1990 mit einem falschen Thema in den Bundestagswahlkampf zu gehen. „Wenn andere über Arbeitslosigkeit und Aufbau Ost reden, dürfen wir nicht endlos über Krieg und Frieden reden, länger als in jedem Tolstoi-Roman“, sagte er.

Viele Grüne merkten plötzlich auch, dass einer wie Werner Schulz die Argumente gegen Gysi und die PDS mit ganz anderer Überzeugungskraft vorbringt. „Ich lasse mich doch nicht von Leuten als Kriegstreiber hinstellen, die gestern noch in den Strampelanzügen der Kampfgruppe an den Ehrentribünen vorbeimarschiert sind“, rief er unter tosendem Beifall. Am Ende setzte Schulz noch einen drauf. „Renate Künast und ich sind das ideale Paar“, sagte er ganz ungeniert. „Frau und Mann, West und Ost, Grüne und Bündnis 90, linke Agrarrevolutionärin und bürgerlicher Reformoptimist.“

Die Leute klatschten, kreischten, jubelten, sie sprangen von ihren Sitzen auf. In diesem Moment werden viele gedacht haben, der Schulz hat einfach Recht, und gut ist er auch noch. Die Strippenzieher aus der Bundespartei, die im Vorfeld versucht hatten, Ströbele durch Lobbyarbeit für Andrea Fischer aus der nächsten Bundestagsfraktion zu drängen, standen gegen die Basis auf verlorenem Posten. Die bunt gemischte Mitgliederversammlung votierte einfach für den an diesem Tag besten Kandidaten. Schulz gewann schon im ersten Wahlgang fast die absolute Mehrheit, im zweiten setzte er sich dann mit 398 zu 300 Stimmen gegen Ströbele durch.

Schulz hat mit seinen Leuten bis in die Nacht hinein gefeiert. In der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg, dort, wo er seit einem Jahr im grünen Kreisverband organisiert ist. Wenn Schulz von dem neuen kulturellen Milieu dort erzählt, bekommt er glänzende Augen. Studenten aus Westdeutschland, junge Ostdeutsche und ehemalige Bürgerrechtler machen gemeinsam Politik. Schulz findet, dass hier Bündnis 90 und die Grünen zusammenwachsen.

Also haben sie auch zusammen gesoffen Samstagnacht. Die Alten, Gedemütigten, für die der Sieg von Werner Schulz eine Art Wiedergutmachung ist. Und die Jungen, Fröhlichen, die die Feste feiern, wie sie fallen. „Das ist ein Aufbruch“, sagt Schulz am nächsten Morgen. „Ein bisschen wie 1989.“