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Was bleibt, ist die Standardwohnung

Eine Trauerspielgroteske des Durchwurschtelns: Andrej Kurkow erzählt in „Ein Freund des Verblichenen“ trunkene Verwicklungen vor düsterer Kulisse. Eine Art Selbstmörder kapituliert darin vor seinem eigenen Überlebenswillen

„Vielleicht hatte mich meine Seele gegen sechs Uhr verlassen, hatte mich ohne Gefühle und Gedanken zurückgelassen. Anscheinend hatte ihr mein Plan nicht gefallen. Die Seele lebt im Körper des Menschen und liebt es nicht, ihren Wohnort zu verlieren.“ Arbeitslos, ehelos, hoffnungslos hat der junge Tolja einen Mörder auf sich angesetzt. Als er die Entscheidung bereut, scheint alles zu spät.

Die Geschichte würde keinen Krimifreund hinter dem Ofen hervorlocken. Es sei denn, Andrej Kurkow hat sie aufgeschrieben. In „Ein Freund des Verblichenen“ gerät die Konfrontation des Aufgebenden mit der Aufgabe zu einem gnadenlosen Spiel darum, wer passiver, freudloser und brutal-gleichgültiger sein kann: der Held oder das tägliche Leben. „Mein letzter Tag schien der langweiligste in meinem Leben zu werden, aber das bekümmerte mich schon nicht mehr.“

„Alles all right“, sagt der Schulfreund Dima und organisiert einen Killer. Bezahlt wird mit grünen Dollars, und besiegelt wird der Deal mit Fruchtkeglewitsch, Limonenwodka, der so sanft die Kehle herunterrinnt, dass am nächsten Morgen nichts als ein Traum davon übrig bleibt. „Es gibt keine Freundschaft mehr. Es gibt Geschäftsbeziehungen“, sagt Dima, und doch tritt der erwartete Verrat nie ein, gibt es keine Täter in dieser Trauerspielgroteske des Durchwurschtelns. Die obligaten trunkenen Verwicklungen vor der Kulisse östlicher Schwermut erlauben keine Gegner außer dem Zufall, der Liebe, dem Leben selbst.

Erst als eine junge Prostituierte bei ihm Wärme findet, ihn verwöhnt und „alles so einfach“ werden lässt, beginnt Tolja, das Alleinsein zu spüren. Fast unbemerkt, scheint es, ist seine Ehe kaputtgegangen. Einziger Besitz bleibt die Einzimmerwohnung, die ihm die Frau überlässt, als sie wortlos zu ihrem „Arbeitskollegen“ zieht. Die Standardwohnung im Chruschtschow’schen Plattenbau bedeutet für Tolja einen von der Außenwelt abgegrenzten Machtbereich. Hier hat die sowjetische Kultur über die Natur gesiegt, letztlich sinnlos Unabhängigkeit gewonnen, ein Bau, ein Heim, eine Schutz- und Traumzone, in der Glück wie Einsamkeit gleichsam betoniert sind: „Die Einsamkeit wurde zur Luft, die ich atmete. Sie beherrschte meine Träume, manchmal schob sie mir denselben Traum mehrere Male hintereinander unter und verwandelte die nächtliche Erholung in Moralpredigten.“

Und doch ist es nicht das Warten auf Lenas Anrufe, das den Helden vor dem Aufgeben bewahrt. Das ehrwürdige Kiew, in dem es den Helden in die dunklen Spelunken der Unterstadt Podol zieht, wo er Instant-Mokka trinkend auf seinen Killer wartet, hält keine Rettung bereit. Hier gibt es nur die Niederlage.

Selbst die Natur, denkt Tolja, ist in diesen Zeiten zu arm, um die Herbstbäume anständig bunt aussehen zu lassen. Die eigensinnige Resignation des Helden, die sich selbst im Glück noch behauptet, die bedingungslose Kapitulation, die er sich gegenüber den Frauen wie dem Leben wünscht, schaffen ein groteskes Bild der ausgeblichenen Morbidität des neuen Ostens. Kurkow hat es einmal den „Zookomplex“ genannt, das Fehlen des Common Sense beim postsowjetischen Menschen, der zu lange eingesperrt war, um den Weg aus dem geöffneten Käfig finden zu können. Wie schon in Kurkows früheren Romanen (hoch gelobt: „Picknick auf dem Eis“ und zuletzt „Petrowitsch“) sind seine Helden im wahrsten Sinn des Wortes Antihelden: Sie trinken Damenwodka.

Sie wollen gar nicht Herr des Geschehens sein, wenn die allgegenwärtige Brutalität des verkrachten Systems ansetzt, sie zu erdrücken. Sie wollen einfach nur ihre Ruhe, nicht mehr allein sein, vielleicht ein Häuschen mit Garten. „Die Welt wäre ideal und naiv wie ein Ausländer“, träumt Tolja, und man selbst ein „beliebiger positiver Held der sowjetischen klassischen Literatur“. Ohne den dazugehörigen Heroismus und Tatendrang, versteht sich.

Der „Freund des Verblichenen“ bleibt wie zufällig an glücklichen Augenblicken hängen, schöpft wie nebenbei Hoffnung. Das stille Glück scheint ihn zu suchen, schon deshalb, weil ihm die Enttäuschung so alltäglich geworden ist wie der „tief in den Genen verwurzelte russisch-orthodoxe Gram“.

Letztlich kapituliert Tolja vor dem eigenen, oft mystisch scheinenden Überlebenswillen. „Ich konnte zehn bis fünfzehn Minuten vor dem Fenster stehen, bis ein beliebiges Geräusch von außen meine Aufmerksamkeit vom Schnee ablenkte. Und dann erwachte ich oder besser, es erstand in mir der gewöhnliche Mensch.“ Und dieser ganz gewöhnliche Mensch setzt den Wasserkessel auf, um sich Tee zu bereiten.

Eher gezwungenermaßen hat Tolja den Kampf gegen das Leben, das allein ihn am Sterben hindert, aufgenommen. Und letztlich – der Leser mag es schon ahnen – wird er auch diesen Kampf noch verlieren.

KATHARINA BORN

Andrej Kurkow: „Ein Freund des Verblichenen“. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Diogenes, Zürich 2001, 142 Seiten, 16,90 €

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