: „Auch oben gibt es Elend“
Warum Manager über Probleme der Globalisierung reden, erläuterte Pierre Bourdieu in einem taz-Interview im Sommer 2000
Interview MATHIAS GREFFRATHund CHRISTIAN SEMLER
taz: Ist es wirklich möglich, ein soziales Bewusstsein in Europa zu konstruieren? Die Arbeiter sind immer noch sehr auf den Nationalstaat fixiert, und zwar mit einem gewissen Recht.
Pierre Bourdieu: Das ist das Problem unserer Epoche. Wenn man heute, vor allem in Deutschland, sagt, der Sozialstaat sei etwas Archaisches, dann stimmt das nur insofern, als die Leute daran gewöhnt sind, im nationalen Kontext zu kämpfen. Das ist kein Nationalismus. Ich glaube allerdings, die neuen Bewegungen müssen sich des Nationalstaats bedienen, um sie zu überschreiten. An dieser Stelle kommt die Arbeit der Intellektuellen ins Spiel. Allerdings nicht ihre allein. Ich glaube, dass wir nur neue Antworten finden, wenn Menschen mit Erfahrungen aus der Arbeit und wir Intellektuellen zusammenwirken.
Sie haben 1995 am Gare de Lyon den Streikenden gesagt: „Ihr habt eine Zivilisation zu verteidigen.“ Zielt Ihre Vision eines europäischen Sozialstaats nicht auf einen politischen europäischen Separatismus?
Überhaupt nicht. Es gibt zum Beispiel den Willen, die französischen Kleinbauern zu verteidigen, aber gleichzeitig die Interessen der Kleinbauern und der Landlosen in Bolivien. Die Aktivisten müssen dorthin reisen, und man muss Vertreter aus Bolivien einladen. Das ist geschehen. Das heißt, diese neuen sozialen Bewegungen wollen kein Inseleuropa verteidigen, aber eine bestimmte Art der Staatlichkeit, der sozialen Verwaltung der Gemeinden, und das bringt sie in Verbindung mit den Interessen von Leuten etwa in Korea.
Uns ist nicht ganz klar, wie Sie sich die Verbindung denken zwischen den oppositionellen, außerparlamentarischen Bewegungen und den europäischen Institutionen.
Sie fragen nach der Basis. Man kann sagen, es gibt keine, aber man kann auch sagen, die Basis besteht aus den Leuten, die sie herstellen. Das beste Beispiel ist die Arbeitslosenbewegung. Oder nehmen Sie den Kampf um die Tobin-Steuer, den die Gruppe Attac führt. Das alles gibt es schon. Das Problem ist nur, dass die Linke an der Regierung diese Bewegungen nicht unterstützt.
Der Gegner all dieser Widerstandsbewegungen ist der Neoliberalismus. Aber Ideologien greifen nur, wenn ihnen in der Wirklichkeit etwas entgegenkommt.
Das Problem ist: Die neuen Formen der Arbeitsorganisation führen dazu, dass diese Menschen sich nicht wie die früheren Ausgebeuteten organisieren können. Sie arbeiten halbtags, ihre Wohnungen sind weit entfernt vom Arbeitsplatz, die Arbeitszeiten sind fast schon individualisiert. Das ist ein großes Hindernis für die Mobilisierung.
Das heißt, das Elend wird molekular und der Fatalismus wächst. Richard Sennett hat berichtet, dass englische Callcenter-Jobber unter miserablen Arbeitsbedingungen leiden. Auf die Frage, warum sie sich nicht gewerkschaftlich organisieren, winkten sie nur noch ab. Was soll man denen sagen?
Vielleicht muss man ihnen gar nichts sagen. Diese Leute werden ihre Erfahrungen machen, das Problem entdecken, aber in seinen neuen Formen. Sie politisieren sich vielleicht nicht an ihrem eigenen Arbeitsschicksal, sondern vielleicht an der Zukunft Ihrer Kinder. Ich glaube, dass hier ein neues großes Konfliktfeld sich entwickeln wird, wenn Bildung immer mehr zur Handelsware wird. Also diese Callcenter-Leute zu fragen, warum sie sich nicht gewerkschaftlich organisieren, ist doch idiotisch. Die Antwort weiß ich vorher. Das heißt doch aber nicht, dass diese Leute nichts zum Ausdruck bringen. Wenn man denen zum Beispiel sagt, ihr kriegt jetzt eine amerikanische Tastatur statt der französischen, geht unter Umständen die Revolte los. Und dann heißt es, das sind Nationalisten.
In der Sozialdemokratie taucht zur Zeit ein Argument auf, das besagt, es sei eine Illusion zu glauben, „ausgeschlossene Dritte“ könnten wieder integriert werden. Alles, was der „dritte Weg“ bewirken kann, sei, zu verhindern, dass sie mit Steinen auf uns schmeißen. Deshalb Mindesteinkommen.
Auf der Rechten gab es schon immer aufgeklärte Herrscher – und der dritte Weg ist nichts anderes als das. Seine Vertreter sagen: Es gibt Schockunternehmer, die nur nach dem Maximalprofit streben, der auf die Dauer teuer kommt und zu sozialer Erbitterung führt. Man müsse eine Politik der intelligenten Konzessionen machen. Man muss den intelligenten Herrschenden sagen: Unsere Untersuchungen über die Zukunft Europas ergeben, dass die Kehrseite einer radikalen Ökonomisierung eine Zunahme der Kriminalität, der Krankheiten nach sich ziehen wird. Beides ist ansteckend. Irgendwann könnten sie auch euch anstecken. Also ja zum Grundeinkommen – aber Almosen unter die Leute zu schmeißen, damit sie den Frieden nicht stören, ist nicht einmal aufgeklärter Zynismus.
Wo stehen wir heute?
Die Lage ist sehr zweideutig. Vor allem, was das Herz der Mittelklasse angeht. Die Manager und die Höheren sind zwiegespalten. Einerseits beuten sie aus, andererseits werden sie selbst hyperausgebeutet. Sie machen leiden und leiden dabei selbst. Wird sich diese Gruppe spalten?
Sie interessiert das Elend der Herrschenden?
Absolut. Es gibt ein ernstes Elend auch oben, und es ist spannend zu beobachten, was daraus werden wird. Selbst die Zufriedensten, die sagen, wir lebten in der besten aller Welten, haben dieses Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann. Und deshalb sind sie durch Kritik erreichbar. Die Intellektuellen sind da, um dieses Gefühl zu verstärken. Mich ärgern heute diejenigen, die intellektuell kollaborieren. Sie sagen, alles wird schon gutgehen. Das ist nicht ihre Aufgabe.
Ihre Gegner sind nicht in erster Linie die rechten, sondern die sozialdemokratisch gesinnten Intellektuellen?
Natürlich auch die Rechten. Aber die Beschäftigung mit ihnen ist banal. Daran ist man gewöhnt. Die intellektuellen Hofschranzen sind schlimmer. Sie geben der herrschenden Politik ein gutes Gewissen und wissenschaftliche Legitimation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen