: Klassenlose Lerngesellschaft
■ In Bremen-Grambke arbeitet eine Grundschule nach einem revolutionären Prinzip: Die Klassen sind abgeschafft, jeder lernt nach seinen Fähigkeiten
„Ich habe mich über die schlechten Ergebnisse von Pisa auch gefreut. Jetzt muss etwas passieren.“ Sagt Karin Knop, Leiterin der Grundschule in Grambke. In den skandinavischen Ländern hat die Pisa-Studie erstaunlich positive Ergebnisse gezeigt. Karin Knop ist vor Jahren nach Schweden gefahren, um sich dort Schulen anzusehen. Und macht es ähnlich an ihrer Schule, gegen alle Widerstände. Das Modell soll auch in Bremen in die Diskussion, findet die SPD-Bildungspolitikerin Ulrike Hövelmann, und führte eine Gruppe von Journalisten zum Ortstermin.
Das erste, was an dieser Grundschule auffällt: Es gibt keine Klassen. Kinder lernen auch außerhalb der Schule nicht in „altershomogenen“ Gruppen, sind mal schneller, mal weniger schnell – Homogenität ist eine Fiktion, also weg damit. Die sozialen Bezugsgruppen in der Grundschule Grambke sind „Klassenfamilien“. Zu einer „Familie“ gehören im statistischen Regelfall sechs 10-Jährige, aber auch sechs 6-Jährige, eben ziemlich durcheinander gemischt, alles wie im richtigen Leben. „Wenn ein Kind mit sechs Jahren zu uns kommt und schon lesen kann, dann freuen wir uns“, sagt die Schulleiterin. In einer normalen Klasse wäre das ein Kandidat für einen Störenfried oder den Klassenkasper.
In der „Klassenfamilie“ kann das eine Kind schneller lernen, das andere langsamer, jedes wird gefördert nach Begabung und Situation. Und dabei lernen alle auch, in Gruppen miteinander umzugehen. Fast zu schön, um wahr zu sein. Der frühere Präses der Handelskammer, der CDU-Mann Bernd Hockemeyer, war von dieser Schule so angetan, dass er und seine Frau sich als „Paten“ betätigen und helfen und auch hier und da einen Scheck aus dem Stiftungsvermögen ihrer Holzfirma stiften. Jede Schule brauche eine Firma, die ihr als „Pate“ beiseite steht, findet Hockemeyer. Aber diese hat ihm ganz besonders gefallen.
Der Tagesablauf in Grambke hat einen festen Rhythmus. Kinder brauchen das, erklärt die Schulleiterin. Morgens gibt es zwei Stunden in der „Klassenfamilie“. Da arbeitet je nach Alter und Konzentrationsfähigkeit jeder an seinen eigenen Materialien. „Wir sind davon abgekommen, den Kindern viele Zettel zu geben“, sagt die Schulleiterin. Für die Schüler bedeute die Zettelwirtschaft „Chaos“. In Grambke haben die Lehrer „Hefte“ zusammengestellt. Wer Heft „Pinguin 4“ durchgearbeitet hat, holt sich „Pinguin 5“. Ältere Kinder helfen jüngeren, natürlich auch die Klassenfamilien-Lehrerin.
Nach den jahrgangsübergreifenden „Klassenfamilien“-Stunden gibt es „Kurse“, in denen die Lehrplananforderungen der Klassen eins bis vier vermittelt werden, insbesondere für Mathematik oder Englisch. Die Kurse der zweiten Klasse sind zum Beispiel die „Pinguin“-Kurse, und wenn ein Sechsjähriger schon etwas rechnen kann, muss er sich in seiner Mathe-Stunde nicht langweilen – er geht eben mit sechs in den „Pinguin“-Kurs. Das ist in dem System kein Problem. Umgekehrt bleibt derjenige, der für einen Abschnitt länger braucht, eben länger damit beschäftigt.
Entscheidend aber ist, unterstreicht die Schulleiterin immer wieder, das Lernen selbständigen Arbeitens, das Aufeinander-Rücksicht-Nehmen in den altersgemischten Gruppen. Das begeistert nicht nur die SPD-Bildungspolitikerin, sondern genauso den früheren Präses der Handelskammer: „Für mich ist diese Schule die Grundlage für eine mündige Gesellschaft“, formuliert er.
Die Schule könnte ein echtes Koalitions-Modell werden. Denn sie reduziert den Selektions-Effekt der Klassen-Schule, ein altes sozialdemokratisches Ziel. Und sie ermöglicht ein ganz individualisiertes Leistungsprinzip. Wenn jetzt die Grambker Grundschule auch den 5. und 6. Jahrgang in die „Klassenfamilien“dazubekommt, dann wird ein vorzeitiger Übergang in die siebte Gymnasialklasse in genau den Fällen vorkommen, in denen der betreffende Schüler soweit ist, sagt die Schulleiterin. Für die Grambker Schule ist das Eingehen auf persönliche Fähigkeiten etwas Normales, das keiner besonderen Bezeichnungen bedarf. Und wer aus der Grambker Schule in die Hauptschule geht, hat soviel Selbstständigkeit und Selbstvertrauen gelernt, dass er nicht zu den zehn Prozent Schülern in Deutschland gehört, die ohne Abschluss von der Schule kommen. Das ist das Ziel der Schule, sagt Karin Knop. Klaus Wolschner
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