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Abtrünnige Tochter

Ivan Olbrachts „Die traurigen Augen“ liegt nun endlich vollständig auf Deutsch vor – Geschichten vom jüdischen Leben in den Karpaten

von KATHARINA GRANZIN

Pures Understatement sind die kleinen Bände der Tschechischen Bibliothek, die seit 1999 in der Deutschen Verlags-Anstalt erscheint. Mit ihrem nur taschenbuchgroßen Format und ihrer dezenten Gestaltung fallen die schön in Leinen gebundenen, fein gestalteten Büchlein auf den bunten Büchertischen kaum auf. Und leider ist es so, dass kein Verlag davon leben könnte, solche Bücher zu machen.

Die Existenz der Reihe verdankt sich denn auch hauptsächlich der Robert Bosch Stiftung, die das Projekt mit etwa einer halben Million Euro finanziert. Jährlich erscheinen drei bis vier Bände; bis 2008 sollen alle 33 vorliegen, von denen zwei Drittel der Prosa des 19. und 20. Jahrhunderts gewidmet sind. Einiges wurde dabei zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Viele bekannte Autoren sind mit weniger bekannten Werken vertreten. Auch der 1952 verstorbene Ivan Olbracht, der Nachwelt unter anderem als Funktionär der KPČ und Ikone des sozialistischen Realismus im Gedächtnis geblieben, kann vom deutschen Lesepublikum nun (neu) entdeckt werden. Olbracht war einer der Hauptvertreter der sozialkritischen Strömung in der Literatur der ersten tschechoslowakischen Republik. Das war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, mithin bevor aus dem Dichter ein Betonkopf wurde. Besonders zwei Romane aus jener Zeit begründeten seinen Ruhm – der eine, „Anna, die Proletarierin“, mutierte jedoch nach mehreren Bearbeitungen endgültig zum sozrealistischen Tendenzwerk. Olbrachts anderer großer Roman „Der Räuber Nikola Šuhaj“ (1933) ist dagegen heute noch ebenso lesenswert wie damals, auch wenn man die sozialrevolutionäre Unterströmung dieser karpatischen Robin-Hood-Geschichte nun anders wahrnehmen mag.

Der „Nikola Šuhaj“ bildete den Auftakt von Olbrachts so genannter kleinkarpatischer Phase, mit der er die Karpato-Ukraine, eine gottverlassene Berglandschaft zwischen der Slowakei und dem Nirgendwo, in die Literatur einführte. (Damals gehörte das Gebiet zur Tschechoslowakei.) Der Erfolgsroman erlebte mehrere deutsche Ausgaben und sollte in jeder etwas größeren Stadtbücherei zu finden sein – derzeit ist keine Ausgabe lieferbar. Denn nicht mit seiner berühmten Räuberballade ist Olbracht in der Tschechischen Bibliothek vertreten. Ihre Herausgeber haben sich klug dafür entschieden, stattdessen ein anderes Hauptwerk der kleinkarpatischen Phase erstmals vollständig auf Deutsch vorzulegen: die Novellentrilogie „Goless im Tal“, nun erschienen unter dem Titel „Die traurigen Augen“, nach der dritten und Hauptnovelle des Zyklus.

Die „Goless“ im Originaltitel bezeichnet im Hebräischen die jüdische Diaspora. Der Ort dieser Geschichten ist der abgeschiedenste, der sich denken ließe – eine Enklave orthodoxen Judentums in einem winzigen Karpatendorf, gezeichnet von bitterster ländlicher Armut und auch vom Leben des nächsten „Schtetl“ im Geiste noch Lichtjahre entfernt. Olbracht gelingt es mit seinem ironischen, leicht jiddisierenden Stil (übrigens sind alle Stücke hervorragend übersetzt), ein fremdartiges Milieu lebendig zu machen, ohne seine Figuren an exotistische Klischees zu verraten.

In der Humoreske „Das Wunder mit Julča“ vermietet ein armer Jude, dessen größter Wunsch es ist, dass sein Erstgeborener studieren möge, seine alte Schindmähre für ein Heidengeld an zwei Gojim und rettet so seine Familie vor dem Verhungern. Die Novelle „Der Vorfall in der Mikwe“ schildert die unerhörte „Verunreinigung“ des rituellen Bades, die das ganze Dorf in Aufruhr bringt. Dieses Milieustück ist deutlich einem gewissen Bildungsauftrag verpflichtet, was der Grund dafür sein mag, dass es erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint. Doch wird nur vor dem Hintergrund dieser von außen gesehenen lächerlichen Tabuverletzung und ihrer Folgen die Größe des dramatischen Konflikts verständlich, den Olbracht in der dritten und längsten Novelle heraufbeschwört, auf die der Zyklus eigentlich zusteuert: „Die traurigen Augen der Hana Karadžičová“ erzählt vom ultimativen Tabubruch, der die orthodoxe Gemeinschaft bis ins Mark erschüttert.

Die junge Hana, die sich von der Enge des Dorfes bedrängt fühlt, schließt sich der aufkeimenden zionistischen Bewegung an, um ihrem bisherigen Leben zu entfliehen. Zum Arbeitseinsatz nach Nordmähren entsandt, lernt sie einen jüdischen Renegaten kennen und lieben. Als das Paar in Hanas Heimatdorf fährt, um mutig ihren Eltern gegenüberzutreten, prallen die Welt der Orthodoxen und die städtische Moderne mit voller Wucht aufeinander. Hanas Abfall vom wahren Glauben ist, anders als die verunreinigte Mikwe, durch kein Ritual der Welt wieder ins Lot zu bringen. Die Gemeinschaft muss, um ihre Identität zu bewahren, die abtrünnige Tochter verstoßen.

Olbracht schildert den Tabubruch als tragischen Konflikt, in dem es weder „richtig“ noch „falsch“ gibt, sondern beide Seiten ihre Würde behalten. Hana entscheidet sich zwar für ihre Liebe und damit für die Welt der modernen Ratio; doch der unwiederbringliche Verlust, den sie dadurch erleidet, wird nicht nur für immer in ihren schönen traurigen Augen stehen – er lässt auch den Leser mit gewissen Spuren der Erschütterung zurück. „Die traurigen Augen der Hana Karadžičová“ wird häufig als eine der schönsten Liebesgeschichten der tschechischen Literatur bezeichnet. Dennoch dauerte es über sechzig Jahre, bis jemand einen Film daraus machte. Karel Kachyňas „Hanele“ lief im Jahr 2000 auch auf der Berlinale.

Ivan Olbracht: „Die traurigen Augen“. Drei Novellen. Aus dem Tschechischen von Gustav Just, August Scholtis und Markus Wirtz. Mit einem Nachwort von Ludger Udolph. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2001, 336 Seiten, 19,90 Euro

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